Zirkuskind
war
im stillen zu der Ansicht gelangt, der neue Inspector-Dhar-Film solle überhaupt
nicht in die Kinos kommen, wußte aber, daß er das nicht verhindern konnte. Er konnte
auch nicht mehr sehr viel länger an Balraj Guptas unterentwickeltes Verantwortungsgefühl
gegenüber der Gesellschaft appellieren; sofern Gupta den echten ermordeten Prostituierten
überhaupt irgendwelche verfehlten Gefühle entgegenbrachte, waren sie nur von kurzer
Dauer.
»Gupta hier!« sagte
der Regisseur. »Betrachten Sie die Sache mal so. Der neue Film wird neuen Anstoß
erregen. Wer immer die Käfigmädchen umbringt, hört vielleicht damit auf und bringt
jemand anderen um! Wir geben der Öffentlichkeit etwas Neues, was sie auf die Palme
bringt – damit tun wir den [258] Prostituierten einen Gefallen!« Balraj Gupta verfügte
über die Logik eines Politikers; der Doktor zweifelte nicht daran, daß der neue
Inspector-Dhar-Film eine andere Gruppe »auf die Palme bringen« würde.
Der Film hieß Inspector Dhar
und die Türme des Schweigens. Allein schon der Titel war eine Ohrfeige für sämtliche Parsen,
weil die Türme des Schweigens der Bestattungsort für ihre Toten waren. In den Türmen
des Schweigens befanden sich immer nackte Leichname von Parsen, weshalb Dr. Daruwalla
zunächst auch angenommen hatte, daß diese den ersten Geier, den er über dem Golfplatz
des Duckworth Club bemerkt hatte, angelockt hatten. Die Parsen waren verständlicherweise
darauf bedacht, die Türme des Schweigens zu schützen; als Parse wußte Dr. Daruwalla
das sehr wohl. Doch in dem neuen Inspector-Dhar-Film ermordete jemand Hippies aus
der westlichen Welt und deponierte ihre Leichen in den Türmen des Schweigens. Viele
Inder nahmen schon Anstoß an europäischen und amerikanischen Hippies, die noch am
Leben waren. Doongarwadi, die Art und Weise, wie die Parsen ihre Toten bestatten,
ist ein anerkannter Bestandteil der Bombayer Kultur. Die Parsen würden auf alle
Fälle entrüstet sein. Und sämtliche Bewohner Bombays würden die Ausgangssituation
des Films als absurd empfinden, weil kein Mensch zu den Türmen des Schweigens gelangen
konnte – nicht einmal andere Parsen! (Es sei denn, sie waren tot.) Aber genau das,
dachte Dr. Daruwalla stolz, war der elegante und raffinierte Dreh in diesem Film
– wie die Leichen dorthin gebracht werden und wie der unerschrockene Inspector Dhar
dahinterkommt.
Resigniert erkannte
Dr. Daruwalla, daß er den Kinostart von Inspector Dhar und die Türme des
Schweigens nicht
viel länger hinauszögern konnte. Allerdings konnte er sich Balraj Guptas restliche
Argumente für eine sofortige Freigabe des Films sparen und das Band schnell weiterspulen.
Außerdem gefiel dem [259] Doktor Balraj Guptas durch die höhere Laufgeschwindigkeit
verzerrte Stimme ungleich besser als seine normale.
Der Doktor spulte
den Anrufbeantworter weiter und gelangte zur letzten Nachricht. Der Anrufer war
eine Frau. Zunächst glaubte Farrokh sie nicht zu kennen. »Ist da der Doktor?« fragte
sie. Es war eine Stimme weit jenseits von Erschöpfung, die Stimme eines Menschen,
der unheilbar deprimiert war. Die Frau sprach, als hätte sie den Mund zu weit offen,
als würde ihr Unterkiefer ständig herunterhängen. Ihre Stimme klang ausdruckslos,
völlig gleichgültig, und ihr Akzent war unmißverständlich und nichtssagend – Nordamerika,
kein Zweifel, aber Dr. Daruwalla (der sich gut mit Akzenten auskannte) tippte etwas
gezielter auf den amerikanischen Mittelwesten oder die kanadische Prärie. Omaha
oder Sioux City, Regina oder Saskatoon.
»Ist da der Doktor?«
fragte die Frau. »Ich weiß, wer Sie in Wirklichkeit sind, ich weiß, was Sie in Wirklichkeit
tun«, fuhr sie fort. »Sagen Sie es dem Kommissar – dem echten Polizeikommissar.
Sagen Sie ihm, wer Sie sind. Sagen Sie ihm, was Sie tun.« Dann hängte sie etwas
ungestüm ein, so als hätte sie den Hörer auf die Gabel knallen wollen, diese aber
in ihrer Wut verfehlt.
Farrokh saß zitternd
in seinem Schlafzimmer. Er hörte, wie Roopa im Wohnzimmer den Glastisch für das
Abendessen deckte. Jeden Augenblick würde sie Dhar und Julia verkünden, der Doktor
sei jetzt zu Hause und das arg verspätete Essen könne endlich serviert werden. Julia
würde sich fragen, warum er sich wie ein Dieb ins Schlafzimmer geschlichen hatte.
Farrokh fühlte sich wirklich wie ein Dieb – allerdings wie einer, der nicht genau
wußte, was er gestohlen hatte und wem er es gestohlen hatte.
Er ließ das
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