Zirkuskind
John D. gesprochen hatte. Der Doktor war überzeugt,
daß es der Schauspieler gewesen war, der da gesprochen hatte, der Schauspieler in
seiner Rolle als Ermittlungsbeamter. Daher also kam dieses hochmütige, selbstsichere
Auftreten – aus der Fiktion!
Alle hatten Dhars
Einschätzung widersprochen, also hatte er das Band zurückgespult und es sich noch
einmal angehört – zweimal, um genau zu sein. Dann plötzlich verschwand die Manieriertheit,
die Dr. Daruwalla mit Inspector Dhar assoziierte. Jetzt sprach ein ernsthafter,
kleinlauter John D.
»Tut mir leid, ich
habe mich geirrt«, sagte John D. »Es ist eine Frau, die sich Mühe gibt, wie ein
Mann zu klingen.«
Da diese Feststellung
mit einer anderen Art von Selbstbewußtsein vorgebracht wurde und ganz und gar nicht
mit der Inspector Dhar eigenen Arroganz, sagte Dr. Daruwalla: »Spul das Band zurück
und laß es noch einmal laufen.« Diesmal waren alle mit John D. einig. Es war eine
Frau, die sich Mühe gab, wie ein Mann zu klingen. Es war niemand, dessen Stimme
sie schon irgendwann einmal gehört hatten – auch darin waren sich alle einig. Das
Englisch der Frau war nahezu perfekt – sehr britisch. Sie hatte nur einen ganz leichten
Hindi-Akzent.
»Ich habe es getan.
Ich habe ihm den Kopf weggepustet. Ich habe ihn brennen sehen. Und ich sage Ihnen,
er hat es verdient. [256] Ihre ganze Familie hat es verdient«, hatte die Frau zwanzig
Jahre lang gesagt, wahrscheinlich öfter als hundertmal. Aber wer war sie? Warum
dieser Haß? Und hatte sie es wirklich getan?
Womöglich ist ihr
Haß noch stärker, wenn sie es nicht getan hat. Aber warum bekennt sie sich dann
dazu? fragte sich der Doktor. Wie konnte irgend jemand Lowji so sehr gehaßt haben?
Farrokh war klar,
daß sein Vater viel dahergeredet hatte, was alle möglichen Leute kränken mußte,
doch soweit er wußte, hatte er nie jemandem persönlich Unrecht getan. In Indien
konnte man ohne weiteres davon ausgehen, daß hinter Gewalttaten entweder politische
Motive oder religiöser Fanatismus standen. Wenn ein so prominenter und kritischer
Mann wie Lowji von einer Autobombe zerfetzt wurde, schloß man automatisch auf ein
Attentat. Doch nun fragte sich Farrokh, ob sein Vater jemandem Anlaß gegeben hatte,
persönlich auf ihn wütend zu sein, und ob sein gewaltsamer Tod nicht schlicht und
einfach ein Mord gewesen war.
Farrokh konnte sich
nur schwer vorstellen, daß jemand, noch dazu eine Frau, einen persönlichen Groll
gegen seinen Vater hegte. Dann fiel ihm der abgrundtiefe Haß ein, den Mr. Lals Mörder
offenbar auf Inspector Dhar hatte. ( MEHR MITGLIEDER STERBEN, WENN DHAR MITGLIED
BLEIBT .) Und
er dachte, daß sie vielleicht allesamt voreilig angenommen hatten, daß die Filmfigur
Dhar und nicht etwa der Darsteller einen derart giftsprühenden Zorn entfacht hatte.
War es denkbar, daß sich Dr. Daruwallas lieber Junge – sein geliebter John D. –
privat in Schwierigkeiten gebracht hatte? Und wenn ja, ging es um eine Liebesbeziehung,
die in die Brüche gegangen war und sich in mörderischen Haß verwandelt hatte? Dr.
Daruwalla schämte sich, daß er so wenig Interesse an Dhars Privatleben bekundet
hatte. Er befürchtete, John D. den Eindruck vermittelt zu haben, daß ihm sein Privatleben
gleichgültig sei.
[257] Natürlich lebte
John D. keusch, wenn er sich in Bombay aufhielt; zumindest behauptete er das. Es
gab öffentliche Auftritte mit Starlets – stets verfügbaren Filmflittchen –, die
jedoch genau kalkuliert waren, um erwünschte Skandale zu verursachen, die beide
Seiten später abstritten. Das waren keine »Beziehungen« – das war »Publicity«.
Die Inspector-Dhar-Filme
lebten davon, daß sie Anstoß erregten – in Indien ein riskantes Unterfangen. Doch
der sinnlose Mord an Mr. Lal deutete auf einen viel bösartigeren Haß hin als den,
den Dr. Daruwalla in den üblichen Reaktionen auf Dhar erkennen konnte. Wie auf ein
Stichwort, so als hätte der bloße Gedanke, Anstoß zu erregen oder zu nehmen, als
Auslöser gedient, stammte die nächste Nachricht von dem Regisseur sämtlicher Inspector-Dhar-Filme.
Seit Wochen belaberte Balraj Gupta Dr. Daruwalla wegen der äußerst heiklen Frage,
wann der neue Inspector-Dhar-Film denn endlich anlaufen sollte. Wegen der Morde
an den Prostituierten und des allgemeinen Mißfallens, das Inspector Dhar
und der Käfigmädchen-Killer erregt hatte, hatte Gupta den Kinostart des neuen Films verschoben
und wurde jetzt allmählich ungeduldig.
Dr. Daruwalla
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