Zirkuskind
anbeteten, und es kam ihm so vor, als hätte Inspector Dhar die
Rolle des Christus übernommen. Nur war ihm die Dornenkrone heruntergerutscht, und
jetzt umschloß das grausame Ding die Kehle des berühmten Schauspielers.
[463] Alle beisammen – in einer kleinen Wohnung
Doch zurück
zu Dhar, dem echten Dhar. Smog mit der Konsistenz und Farbe von Eiweiß hatte sich
über Dr. Daruwallas Balkon gewälzt, auf dem der Schauspieler nach wie vor schlief.
Hätte er um diese Zeit zwischen Nacht und Morgendämmerung die Augen aufgemacht,
hätte er durch diese Suppe nicht hindurchsehen können – zumindest nicht die sechs
Stockwerke bis hinunter auf den Gehsteig, wo sich Vinod mit seinem halb bewußtlosen
Zwillingsbruder abmühte. Auch das vorhersagbare Gebell der Hunde im ersten Stock
hörte er nicht. Vinod gestattete dem Missionar, sich kräftig auf ihn zu stützen,
während er den Koffer, der Martin Mills’ Bildung enthielt, quer durchdie Eingangshalle
zu dem verbotenen Aufzug schleppte. EinWohnungsinhaber aus dem ersten Stock, Mitglied
der Hausbewohnergemeinschaft, erhaschte einen Blick auf den zwergwüchsigen Chauffeur
und seinen zerschundenen Begleiter, bevor sich die Lifttür schloß.
Obwohl Martin Mills
so übel zugerichtet war und kaum auf seine Umgebung achtete, war er doch überrascht
über den Aufzug und das moderne Gebäude, da er wußte, daß die Missionsschule und
ihre ehrwürdige Kirche einhundertfünfundzwanzig Jahre alt waren. Auch das wilde
Gebell der Hunde wirkte fehl am Platz.
»St. Ignatius?«
fragte der Missionar den Barmherzigen Zwergsamariter.
»Sie brauchen keinen
Heiligen, Sie brauchen einen Arzt!« erklärte ihm der Zwerg.
»Ich kenne tatsächlich
einen Arzt in Bombay. Er ist ein Freund meiner Eltern, ein gewisser Dr. Daruwalla«,
sagte Martin Mills.
Jetzt war Vinod
ernstlich beunruhigt. Die Peitschenstriemen und selbst die blutigen Rinnsale vom
Beineisen um den Hals des [464] armen Mannes hatten nur oberflächliche Verletzungen
hinterlassen, aber dieses unverständliche Gemurmel über Dr. Daruwalla schien Vinod
darauf hinzudeuten, daß der Filmstar eine Art Amnesie erlitten hatte. Vielleicht
doch eine schwere Kopfverletzung.
»Natürlich kennen
Sie Dr. Daruwalla!« rief Vinod. »Wir sind auf dem Weg zu ihm!«
»Ach, dann kennst
du ihn auch?« sagte der Scholastiker erstaunt.
»Versuchen Sie,
den Kopf möglichst nicht zu bewegen«, riet ihm der besorgte Zwerg.
Aufgrund des hallenden
Hundegebells – Vinod begriff den Zusammenhang überhaupt nicht – meinte Martin Mills:
»Es hört sich an wie beim Tierarzt… dabei dachte ich, er sei Orthopäde.«
»Natürlich ist er
Orthopäde!« rief Vinod. Auf Zehenspitzen stehend versuchte der Zwerg, in Martins
Ohren zu schauen, als erwarte er, dort irgendwelche umherschwappende Gehirnmasse
zu entdecken. Aber Vinod war nicht groß genug.
Dr. Daruwalla wachte
von dem fernen Hundeorchester auf. Im sechsten Stock hörte man das Gebell und Geheul
nur gedämpft, aber trotzdem unverkennbar. Der Doktor hatte keinerlei Zweifel, was
den Grund für die schaurigen Klänge betraf.
»Dieser verdammte
Zwerg!« sagte er laut, aber Julia reagierte gar nicht, weil sie daran gewöhnt war,
daß ihr Mann im Schlaf alles mögliche redete. Doch als Farrokh aufstand und in seinen
Schlafrock schlüpfte, war sie auf der Stelle wach.
»Ist das wieder
Vinod?« fragte sie.
»Ich denke schon«,
antwortete Dr. Daruwalla.
Es war kurz vor
fünf Uhr morgens, als der Doktor an den geschlossenen Glasschiebetüren vorbeischlich,
die auf den ganz in düsteren Nebel eingehüllten Balkon führten. Der Smog hatte sich
mit einem dichten, vom Meer hereinziehenden Nebel vermischt, so daß der Doktor weder
Dhars Liege sehen konnte noch die [465] Tortoise-Moskitospiralen, die der Schauspieler
stets ringsum aufstellte, wenn er auf dem Balkon schlief. Im Flur schnappte sich
Farrokh einen verstaubten Schirm, mit dem er Vinod einen gehörigen Schrecken einzujagen
hoffte. Dann öffnete er die Wohnungstür. Soeben traten der Zwerg und der Missionar
aus dem Aufzug. Beim ersten Anblick von Martin Mills befürchtete Dr. Daruwalla,
Dhar, der vielgeschmähte Schauspieler, habe sich im Smog mit Gewalt den Schnurrbart
abrasiert – daher die vielen Schnitte –, und sei dann, zweifellos deprimiert, vom
Balkon im sechsten Stock gesprungen.
Der Missionar wiederum
war bestürzt, daß plötzlich ein Mann im schwarzen Kimono und mit einem schwarzen
Schirm in der Hand vor ihm stand – eine
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