Zirkuskind
Taschendiebe den Koffer aus den Händen –, und da
erst griffen die hijras ein. Schließlich hatte Dhar mit ihnen geredet, und sie wollten nicht, daß andere
unbefugt in ihr Territorium eindrangen oder sich an ihrer Stelle rächten – schon
gar nicht dieser gewöhnliche Straßenpöbel. Die Transvestiten-Prostituierten prügelten
die Straßenmädchen und ihre Zuhälter mit Leichtigkeit weg, und nicht einmal den
Taschendieben gelang es, mit dem schweren Koffer zu entkommen, den die hijras schließlich ganz allein aufmachten.
Sie rührten weder
den zerknitterten schwarzen Anzug noch die schwarzen Hemden und die Priesterkragen
an – die waren nicht nach ihrem Geschmack –, aber die Hawaiihemden gefielen ihnen,
und sie nahmen sie rasch an sich. Dann zog einer von ihnen Martin Mills das Hemd
aus, behutsam, um es nicht zu zerreißen, und als der Missionar bis zur Taille nackt
dastand, entdeckte ein hijra die Peitsche mit den geflochtenen Riemen, die zu reizvoll war, um ignoriert zu werden.
Beim ersten brennenden Hieb lag Martin auf dem Bauch; dann rollte er sich zu einer
Kugel zusammen. Sein Gesicht bedeckte er nicht, weil es ihm zu wichtig war, die
Hände zum Gebet gefaltet zu lassen. Auf diese Weise verlieh er der extremen Überzeugung
Ausdruck, daß selbst solche Schläge ad majorem Dei gloriam (»zum höheren Ruhme Gottes«) erfolgten.
[459] Die Transvestiten-Prostituierten
zeigten Achtung vor dem gesammelten Bildungsgut, das sich im Koffer befand; trotz
ihrer Aufregung, daß auch ja jeder einmal mit der Peitsche drankam, zerrissen oder
zerknitterten sie nicht eine einzige Buchseite. Den Zweck des Beineisens jedoch
interpretierten sie falsch, desgleichen den der culpa- Perlen; ein hijra versuchte, die Perlen zu essen,
bevor er sie wegwarf. Bei dem Beineisen wußten die hijras nicht, daß es für den Oberschenkel
gedacht war – oder vielleicht hielten sie es einfach für passender, es Inspector
Dhar um den Hals zu legen, was sie auch taten. Es saß nicht allzu eng, aber da die hijras in ihrer Ungeduld ihrem Opfer das
Eisen über den Kopf schoben, zerkratzten die Drahtstacheln das Gesicht des Missionars;
und jetzt bohrten sie sich in seinen Hals und hinterließen eine Menge kleiner Schnitte,
so daß Martins Oberkörper blutgestreift war.
Er machte den lahmen
Versuch aufzustehen. Den Blick auf die Peitsche gerichtet, versuchte er es immer
wieder. Die Transvestiten wichen vor ihm zurück, weil er sich nicht so verhielt,
wie sie erwartet hatten. Er setzte sich weder zur Wehr, noch bettelte er um sein
Leben. »Es geht mir nur um euch und um alles, was euch widerfährt!« rief ihnen Martin
Mills zu. »Obwohl ihr mich schmäht und ich ein Nichts bin, möchte ich nur, daß ihr
euch selbst rettet. Ich kann euch zeigen, wie das geht, aber nur, wenn ihr es mir
erlaubt.«
Die hijras reichten die Peitsche weiter, aber
ihre Begeisterung ließ sichtlich nach. Sobald einer das Ding in der Hand hielt,
gab er es rasch weiter, ohne zuzuschlagen. Rot angeschwollene Striemen bedeckten
Martins entblößten Körper – besonders erschreckend sahen sie im Gesicht aus –, und
das Blut infolge des falsch angebrachten Beineisens rann ihm in Streifen über Brust
und Rücken. Trotzdem schützte er nicht sich selbst, sondern seine Bücher! Er klappte
den Koffer mit den Schätzen seiner Gelehrsamkeit behutsam zu und flehte die Prostituierten
noch immer an, sich ihm anzuschließen.
[460] »Bringt mich
nach Mazgaon«, sagte er zu ihnen. »Bringt mich nach St. Ignatius, und ihr werdet
dort ebenfalls willkommen sein.«�Für die wenigen, die verstanden, was er sagte,
war die Vorstellung zu lachhaft. Zu ihrer Überraschung war der Mann, den sie vor
sich hatten, zwar ein körperlicher Schwächling, aber sein Mut schien unüberwindlich.
Mit dieser Sorte Zähigkeit hatten sie nicht gerechnet. Plötzlich wollte ihm keiner
mehr weh tun. Sie haßten ihn, und trotzdem fühlten sie sich beschämt.
Doch die Straßenmädchen,
ihre Zuhälter und die Taschendiebe hätten kurzen Prozeß mit ihm gemacht, sobald
die hijras von ihm abließen, wäre nicht genau
in dem Augenblick wieder einmal der allseits bekannte, schmutzigweiße Ambassador
vorbeigefahren, der schon die ganze Nacht zwischen Kamathipura und der Grant und
der Falkland Road hin und her pendelte. Hinter dem Fenster auf der Fahrerseite,
die Szene nüchtern betrachtend, saß der Fahrer, Dhars schlägernder Zwerg.
Man kann sich Vinods
Überraschung vorstellen, als er seinen berühmten Kunden
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