Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
erblickte, zur Hälfte entkleidet
und blutüberströmt. Die elenden Schurken hatten Inspector Dhar sogar den Schnurrbart
abrasiert! Zu dem offensichtlichen Schmerz hatte der geliebte Schauspieler auch
noch diese Demütigung erdulden müssen. Und was für ein abscheuliches Folterinstrument
hatten ihm diese dreckigen Huren da um den Hals gelegt? Es sah aus wie ein Hundehalsband,
nur daß sich die Stacheln innen befanden. Außerdem war der arme Dhar bleich und
knochig wie ein Kadaver. Vinod kam es vor, als hätte sein prominenter Klient zwanzig
Pfund abgenommen!
    Ein Zuhälter mit
einem großen Messingring voller Schlüssel kratzte mit einem Schlüssel über die Fahrertür
des Ambassadors, wobei er Vinod unverwandt in die Augen schaute. Deshalb sah er
auch nicht, daß der Zwerg unter den eigens für ihn konstruierten Fahrersitz langte,
wo stets ein Vorrat an [461]  Squashschlägergriffen bereitlag. Später wußte niemand
mehr genau, was als nächstes geschah. Die einen behaupteten, das Taxi des Zwergs
sei ausgeschert und dem Zuhälter absichtlich über den Fuß gefahren. Andere meinten,
der Ambassador sei auf den Bordstein hinaufgefahren, und die in Panik geratene Menge
habe den Zuhälter gestoßen – so oder so, das Auto war ihm über den Fuß gefahren.
Alle waren sich einig, daß Vinod in der Menge schlecht zu sehen war, weil er ungleich
kleiner war als alle anderen. Wer gut aufpaßte, konnte ihn freilich ausmachen, denn
überall fielen Leute um, umklammerten ihre Knie oder Handgelenke und wanden sich
vor Schmerz auf dem mit Abfällen übersäten Pflaster. Vinod schwang seine Squashschlägergriffe
in der Höhe, in der sich bei den meisten Leuten die Knie befanden. Ihre Schreie
vermischten sich mit dem Geschrei der Käfigmädchen in der Falkland Road, die ihre
Dienste feilboten.
    Als Martin Mills
das grimmige Gesicht des Zwergs sah, der sich wild entschlossen den Weg zu ihm bahnte,
glaubte er, sein letztes Stündlein habe geschlagen. Er wiederholte, was Jesus zu
Pilatus gesagt hatte (Johannes 18. 36): »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.«
Dann trat er dem heranstürmenden Zwerg gegenüber. »Ich vergebe dir«, sagte Martin
und neigte den Kopf, als erwarte er den Hieb des Henkers. Er dachte gar nicht daran,
daß Vinod seinen Kopf mit den Schlägergriffen nie hätte erreichen können, wenn er
ihn nicht hinuntergebeugt hätte.
    Aber Vinod packte
den Missionar einfach an der Gesäßtasche und dirigierte ihn zum Taxi. Als der törichte
Scholastiker gerettet war und, vom Gewicht seines Koffers festgenagelt, auf dem
Rücksitz des Taxis saß, versuchte er, wenn auch nur kurz, sich freizukämpfen und
auf die Falkland Road zurückzukehren.
    »Warte!« rief er
Vinod zu. »Ich will meine Peitsche wiederhaben! Das ist meine Peitsche!«
    Vinod hatte bereits
seinen Schlägergriff geschwungen und auf das Handgelenk des unglücklichen hijra krachen lassen, der die [462]  Peitsche
zuletzt in der Hand gehalten hatte. Ohne Schwierigkeiten holte der Zwerg Martin
Mills’ Spielzeug zur Selbstkasteiung zurück und überreichte es ihm. »Gott segne
dich!« sagte der Scholastiker. Rechts und links knallten die soliden Türen des Ambassador
zu, und Sekunden später wurde Martin Mills durch die plötzliche Beschleunigung in
den Sitz gedrückt. »St. Ignatius«, sagte er zu dem rücksichtslosen Fahrer. Vinod,
der glaubte, Dhar würde beten, war bestürzt, weil er ihn nie für einen frommen Menschen
gehalten hatte.
    An der Kreuzung
Falkland Road und Grant Road schleuderte ein Junge, der als Teeträger für ein Bordell
arbeitete, ein Glas Tee auf das vorüberfahrende Taxi. Vinod fuhr einfach weiter,
obwohl seine Wurstfinger unter den Autositz wanderten, um sich davon zu überzeugen,
daß die Squashschlägergriffe an ihrem Platz lagen.
    Bevor das Taxi in
den Marine Drive einbog, hielt Vinod den Wagen an und kurbelte die hinteren Fenster
herunter, weil er wußte, wie gern Dhar den Geruch des Meeres mochte. »Sie halten
mich ganz schön zum Narren«, sagte Vinod zu seinem übel zugerichteten Fahrgast.
»Und ich dachte, Sie schlafen die ganze Nacht auf Dr. Daruwallas Balkon!« Bei seinem
Anblick im Rückspiegel stockte Vinod der Atem – nicht wegen der Peitschenstriemen
auf dem geschwollenen Gesicht und auch nicht wegen des entblößten, blutverschmierten
Oberkörpers, sondern wegen des stacheligen Beineisens um Dhars Hals. Der Zwerg hatte
nämlich schreckliche, blutrünstige Darstellungen von Christus am Kreuz gesehen,
die die Christen

Weitere Kostenlose Bücher