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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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unheilverkündende Erscheinung. Aber Vinod,
der sich von dem Schirm nicht einschüchtern ließ, stellte sich dicht neben Dr. Daruwalla
und flüsterte: »Ich habe ihn gefunden, wie er den Transvestiten-Prostituierten gepredigt
hat. Die hijras hätten ihn um ein Haar umgebracht!«
    Farrokh wußte, wen
er vor sich hatte, sobald der Mann den Mund aufmachte: »Ich glaube, Sie kennen meine
Mutter und meinen Vater. Ich bin Martin, Martin Mills.«
    »Bitte kommen Sie
herein, ich habe Sie erwartet«, sagte Dr. Daruwalla und nahm den jämmerlich aussehenden
Mann am Arm.
    »Wirklich?« fragte
Martin Mills.
    »Er hat einen Hirnschaden!«
flüsterte Vinod dem Doktor zu, der dem wackeligen Missionar ins Bad half und ihn
aufforderte, sich auszuziehen. Dann bereitete ihm der Doktor ein Bad mit Magnesiumsulphat.
Während die Wanne einlief, holte Farrokh Julia aus dem Bett und bat sie, dafür zu
sorgen, daß Vinod verschwand.
    »Wer will denn um
diese Zeit baden?« fragte sie ihren Mann.
    »John D.s Zwillingsbruder«,
antwortete Dr. Daruwalla.
    [466]  Freier Wille
    Julia
war es noch nicht gelungen, Vinod weiter als bis in den Flur hinauszukomplimentieren,
als das Telefon klingelte. Rasch nahm sie ab. Vinod bekam die ganze Unterhaltung
mit, weil der Mann am anderen Ende schrie. Es war Mr. Munim, ein Wohnungseigentümer
aus dem ersten Stock.
    »Ich habe gesehen,
wie er den Lift betreten hat! Er hat alle Hunde aufgeweckt! Ich habe ihn gesehen,
Ihren Zwerg!« plärrte Mr. Munim.
    Julia sagte: »Bitte verzeihen Sie, aber wir besitzen keinen Zwerg.«
    »Mich können Sie
nicht zum Narren halten!« schrie Mr. Munim. »Den Zwerg von Ihrem Schauspieler, den
meine ich!«
    »Wir besitzen auch
keinen Schauspieler«, erklärte ihm Julia.
    »Sie verstoßen gegen
eine feste Regel!« kreischte Mr. Munim.
    »Ich weiß nicht,
was Sie meinen. Sie müssen den Verstand verloren haben«, entgegnete Julia.
    »Der Taxifahrer
hat den Lift benutzt, dieser schlägernde Zwerg!« schrie Mr. Munim.
    »Bringen Sie mich
nicht so weit, daß ich die Polizei rufe«, sagte Julia. Dann hängte sie auf.
    »Ich nehme ja schon
die Treppe, auch wenn ich danach immer ganz schlapp bin… sechs Stockwerke«, sagte
Vinod. Märtyrertum stand ihm eigenartig gut, dachte Julia, aber dann wurde ihr klar,
daß sich Vinod nicht ohne Grund im Flur herumdrückte. »In Ihrem Schirmständer sind
fünf Schirme«, bemerkte der Zwerg.
    »Möchtest du dir
einen ausleihen, Vinod?« fragte ihn Julia.
    »Nur damit ich leichter
die Treppen hinunterkomme«, antwortete Vinod. »Ich brauche einen Stock.« Er hatte
die Squashschlägergriffe im Taxi gelassen, und sollte er Mr. Munim oder einem Hund
aus dem ersten Stock begegnen, wollte er eine [467]  Waffe bei sich haben. Deshalb nahm
er einen Schirm mit. Julia ließ ihn zur Küchentür hinaus, die auf die Hintertreppe
führte.
    »Vielleicht werden
Sie mich nie wiedersehen«, sagte Vinod. Als er in den Treppenschacht hinunterblickte,
stellte Julia fest, daß er etwas kleiner war als der Schirm, den er sich ausgesucht
hatte; er hatte den allergrößten genommen.
    Unterdessen machte
Martin Mills in der Badewanne den Eindruck, als würde er das Brennen seiner rot
angeschwollenen Striemen begrüßen; er zuckte nicht mit der Wimper, als Dr. Daruwalla
die vielen kleinen Wunden, die das schauerliche Beineisen hinterlassen hatte, mit
einem Schwamm abtupfte. Dem Doktor kam es vor, als würde der Missionar das Beineisen,
das er ihm abgenommen hatte, vermissen. Außerdem erwähnte Martin zweimal voller
Besorgnis, daß er seine Peitsche im Auto des heldenhaften Zwergs liegengelassen
habe.
    »Vinod wird sie
Ihnen bestimmt zurückgeben«, versicherte ihm Dr. Daruwalla. Er war über die Geschichte
des Missionars weit weniger erstaunt als dieser. In Anbetracht des Stellenwerts
der Person, mit der er verwechselt worden war, wunderte esDr. Daruwalla, daß Martin
Mills noch am Leben war und keine schlimmeren Blessuren erlitten hatte. Je mehr
und je länger der Missionar über seine Erlebnisse plapperte, um so mehr verringerte
sich in Farrokhs Augen die Ähnlichkeit mit seinem schweigsamen Zwillingsbruder.
Dhar plapperte nicht.
    »Na ja, ich meine,
ich wußte ja, daß ich mich nicht unter Christen befinde«, sagte Martin Mills, »aber
trotzdem habe ich eigentlich nicht mit einer so aggressiven Feindseligkeit gegenüber
dem Christentum gerechnet, wie ich sie erlebt habe.«
    »Aber, aber, ich
würde nicht unbedingt diesen Schluß daraus ziehen«, beschwichtigte

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