Zirkuskind
Loebs Theorien über Blattläuse oder Pawlows
Hund?« Dr. Daruwalla nickte, wagte aber nicht, etwas zu sagen, denn er hatte noch
nie von Loebs Blattläusen gehört. Vom Pawlowschen Hund freilich schon. Er konnte
sich sogar erinnern, was den Hund veranlaßte, Speichel zu produzieren, und was dieser
Speichel bedeutete.
»Wir müssen Ihnen
übertrieben streng vorkommen, wir Katholiken den Protestanten, meine ich«, sagte
Martin. Dr. Daruwalla schüttelte den Kopf. »O doch!« sagte der Missionar. »Wir vertreten
eine Theologie, basierend auf Belohnung und Bestrafung, die im Leben nach dem Tod
ausgeteilt werden. Verglichen mit den Protestanten messen wir der Sünde großes Gewicht
bei. Wir Jesuiten allerdings tendieren nicht dazu, die Sünden des Geistes überzubewerten.«
»Im Gegensatz zu
denen des Handelns«, flocht Dr. Daruwalla ein, denn obwohl das auf der Hand lag
und die Bemerkung daher völlig überflüssig war, hatte der Doktor das Gefühl, daß
nur ein Dummkopf nichts dazu zu sagen haben würde, und bisher hatte er noch nichts
gesagt.
»Uns – uns Katholiken,
meine ich – kommt es gelegentlich so vor, als würden die Protestanten den Hang des
Menschen zum Bösen überbetonen…« An dieser Stelle machte der Missionar eine Pause,
aber Dr. Daruwalla, unsicher, ob er den Kopf schütteln sollte oder nicht, starrte
nur einfältig auf das strudelnd [471] abfließende Badewasser, als handelte es sich
dabei um seine ihm entgleitenden Gedanken.
»Kennen Sie Leibniz?«
fragte der Jesuit plötzlich.
»Na ja, auf der
Universität… aber das ist Jahre her«, sagte der Doktor.
»Leibniz geht davon
aus, daß der Mensch seine Freiheit durch den Sündenfall nicht eingebüßt hat, was
uns – uns Jesuiten, meine ich – Leibniz ziemlich sympathisch macht«, sagte Martin.
»Es gibt Stellen bei Leibniz, die ich nie vergessen werde, zum Beispiel: ›Obwohl
der Antrieb und die Hilfe von Gott herkommen, finden sie doch im Menschen allezeit
eine gewisse Mitwirkung; sonst könnte man nicht sagen, er habe gehandelt‹… Aber
dem stimmen Sie doch zu, oder?«
»Aber ja, sicher«,
sagte Dr. Daruwalla.
»Na sehen Sie, und
deshalb kann ich nicht einfach nur Englisch unterrichten«, erklärte der Jesuit.
»Natürlich werde ich mich bemühen, die Englischkenntnisse der Kinder zu verbessern,
so gut es irgend geht. Doch vorausgesetzt, daß ich die Freiheit habe zu handeln
– obwohl natürlich ›der Antrieb und die Hilfe von Gott her kommen‹ –, muß ich alles
tun, was in meiner Macht steht, um nicht nur meine eigene Seele zu retten, sondern
auch die Seelen anderer.«
»Verstehe«, sagte
Dr. Daruwalla, der allmählich auch begriff, warum die erzürnten Transvestiten-Prostituierten
weder in Martin Mills’ Fleisch noch in seinen unbeugsamen Willen eine sonderlich
große Kerbe hatten schlagen können.
Außerdem stellte
der Doktor fest, daß er im Wohnzimmer stand und Martin zuschaute, wie er sich auf
die Couch legte, ohne sich im mindesten daran erinnern zu können, daß sie das Bad
verlassen hatten. Und jetzt gab der Missionar dem Doktor das Beineisen, der es widerstrebend
an sich nahm.
»Wie ich sehe, werde
ich das hier nicht brauchen«, sagte der Scholastiker. »Auch ohne das wird es genügend
Bedrängnisse [472] geben. Der heilige Ignatius von Loyola hat im Hinblick auf diese
Werkzeuge der Kasteiung auch seine Meinung geändert.«
»Tatsächlich?« fragte
Farrokh.
»Ich glaube, er
hat übertrieben davon Gebrauch gemacht, aber nur, weil er seine früheren Sünden
zutiefst verabscheute«, sagte der Jesuit. »In der späteren Version seiner Geistlichen Übungen rät Loyola sogar dringend von solchen
Geißeln des Fleisches ab. Und das radikale Fasten lehnt er auch ab.«
»Ich ebenfalls«,
sagte Dr. Daruwalla, der nicht wußte, was er mit dem gräßlichen Beineisen anfangen
sollte.
»Bitte, werfen Sie
es weg«, sagte Martin. »Und vielleicht wären Sie so freundlich, dem Zwerg zu sagen,
daß er die Peitsche behalten kann. Ich will sie nicht mehr.«
Dr. Daruwalla wußte
genau über Vinods Schlägergriffe Bescheid. Bei der Vorstellung, was der Zwerg mit
der Peitsche anrichten könnte, bekam er eine Gänsehaut. Dann stellte er fest, daß
Martin Mills eingeschlafen war. Mit den auf der Brust gefalteten Händen und dem
glückseligen Gesichtsausdruck ähnelte der Missionar einem Märtyrer auf dem Weg ins
himmlische Königreich.
Farrokh holte Julia
ins Wohnzimmer, damit sie ihn sich ansah. Anfangs wagte sie sich nur
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