Zirkuskind
Dr. Daruwalla
den aufgeregten Scholastiker. »Allerdings herrscht eine gewisse Empfindlichkeit
gegenüber Bekehrungsversuchen… jeder Art.«
[468] »Seelen zu retten
hat nichts mit Bekehren zu tun«, verteidigte sich Martin Mills.
»Na ja, wie Sie
schon sagten, befanden Sie sich nicht gerade auf christlichem Territorium«, entgegnete
Dr. Daruwalla.
»Wie viele dieser
Prostituierten sind eigentlich mit dem Aidsvirus infiziert?« fragte Martin.
»Ich bin Orthopäde«,
erinnerte der Doktor den Scholastiker, »aber Leute, die sich auskennen, tippen auf
vierzig Prozent… etliche behaupten sogar, sechzig.«
»Wie dem auch sei«,
sagte Martin Mills, »das hier ist christlicher Boden.«
In dem Augenblick
wurde Farrokh schlagartig klar, daß die größte Gefahr für Martin Mills nicht seine
verblüffende Ähnlichkeit mit Inspector Dhar war, sondern er selbst.
»Ich dachte, Sie
seien Englischlehrer«, sagte Dr. Daruwalla. »Als ehemaliger Schüler von St. Ignatius
kann ich Ihnen versichern, daß das in allererster Linie eine Schule ist.« Der Doktor
kannte den Pater Rektor und konnte daher ohne weiteres voraussagen, daß Pater Julian
zum Thema Seelenrettung bei Prostituierten genau dies sagen würde. Doch als Farrokh
mit ansah, wie Martin nackt aus der Badewanne stieg und sich, ohne auf seine Wunden
zu achten, energisch trockenrubbelte, sah er außerdem voraus, daß der Pater Rektor
und die anderen betagten Verteidiger des Glaubens in St. Ignatius es schwerhaben
würden, einen derart eifrigen Glaubensbruder davon zu überzeugen, daß sich seine
Pflichten darauf beschränkten, die Englischkenntnisse der Schüler in den höheren
Klassen zu verbessern. Denn während er mit dem Handtuch wieder und wieder über die
Peitschenstriemen rieb, bis Gesicht und Körper ebenso leuchtend rot gestreift waren
wie unmittelbar nach den Peitschenhieben, sann Martin Mills die ganze Zeit auf eine
Antwort. Als gewitzter Jesuit, der er nun einmal war, leitete er seine Antwort mit
einer Frage ein.
[469] »Sind Sie denn
kein Christ?« fragte der Missionar den Doktor. »Ich glaube, mein Vater hat mir erzählt,
Sie seien zum Christentum übergetreten, aber kein Katholik.«
»Ja, das stimmt«,
antwortete Dr. Daruwalla vorsichtig. Er gab Martin Mills einen seiner besten Seidenpyjamas,
aber der zog es vor, nackt zu bleiben.
»Sind Ihnen die
calvinistische und die jansenistische Auffassung vom freien Willen bekannt?« fragte
Martin den Doktor. »Natürlich ist das jetzt eine grobe Vereinfachung, aber es geht
um den Disput, der sich zwischen Luther und den anderen Reformationstheologen entsponnen
hat – nämlich die Vorstellung, daß wir aufgrund der Erbsünde verdammt sind und uns
nur von der Gnade Gottes Rettung erhoffen dürfen. Luther hat bestritten, daß gute
Werke zu unserer Rettung beitragen können. Calvin hat außerdem noch bestritten,
daß uns unser Glaube retten kann. Calvin zufolge ist es uns allen vorherbestimmt,
gerettet zu werden – oder auch nicht. Glauben Sie das?«
Aufgrund der Richtung,
in die die Logik des Jesuiten wies, vermutete Farrokh, daß er das nicht glauben
sollte, und so sagte er: »Nein, nicht unbedingt.«
»Also gut, dann
sind Sie kein Jansenist«, sagte der Scholastiker. »Die waren ziemlich entmutigend.
Ihre Lehrmeinung von der Prävalenz der Gnade gegenüber dem freien Willen war wirklich
ausgesprochen defätistisch. Sie haben uns allen das Gefühl gegeben, daß wir absolut
nichts tun können, um erlöst zu werden… kurz gesagt: Wozu sich mit guten Werken
abplagen? Und wenn wir sündigen, na und?«
»Ist das noch immer
eine grobe Vereinfachung?« fragte Dr. Daruwalla. Der Jesuit betrachtete den Doktor
mit verstohlener Hochachtung. Außerdem nutzte er diese Unterbrechung, um in den
Seidenpyjama zu schlüpfen.
»Wenn Sie damit
meinen, daß es nahezu unmöglich ist, das Konzept des freien Willens mit unserem
Glauben an einen [470] allmächtigen und allwissenden Gott zu vereinbaren, gebe ich
Ihnen recht. Das ist wirklich schwierig«, sagte Martin. »Die Frage nach dem Verhältnis
zwischen menschlichem Willen und göttlicher Allmacht… ist das Ihre Frage?«
Da Dr. Daruwalla
annahm, daß dies eine Frage sein sollte, sagte er: »Ja… so was in der Art.«
»Also, das ist wirklich
eine interessante Frage«, meinte der Jesuit. »Ich finde es furchtbar, wenn jemand
versucht, die geistige Welt auf rein mechanistische Theorien zu reduzieren wie beispielsweise
diese Behaviouristen. Wen kümmern schon
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