Zirkuskind
fast so sehr wie
die Vorstellung, die nächsten zwölf Stunden in Martin Mills’ abgelegtem Beineisen
verbringen zu müssen – oder von Vinod, der wütend die Peitsche des Missionars schwang,
verfolgt zu werden.
Er durfte keine
Zeit verlieren. Während Julia Martin eine Tasse Kaffee einschenkte, warf Farrokh
einen raschen Blick auf die in dessen Koffer versammelte Bibliothek. Einen besonders
verstohlenen Blick zog Pater de Mellos Sadhana: Ein Weg zu Gott auf sich, denn darin entdeckte Farrokh
eine Seite mit einem Eselsohr, auf der ein Satz unterstrichen war: »Einer der größten
Feinde des Gebets ist nervliche Anspannung.« Vermutlich kann ich deshalb nicht beten,
dachte Dr. Daruwalla.
Unten in der Eingangshalle
gelang es dem Doktor und dem [480] Missionar nicht, unbemerkt an dem Nachbarn aus dem
ersten Stock, dem blutrünstigen Mr. Munim, vorbeizukommen.
»So! Da ist ja Ihr
Schauspieler! Und wo ist Ihr Zwerg?« schrie Mr. Munim.
»Achten Sie nicht
auf diesen Mann«, sagte Farrokh zu Martin. »Er ist total verrückt.«
»Der Zwerg ist im
Koffer!« schrie Mr. Munim und versetzte dem Koffer des Scholastikers einen Tritt,
was ausgesprochen unklug war, weil er nur sehr weiche, dünne Sandalen trug. Mr.
Munims sofortiger schmerzlicher Gesichtsausdruck ließ eindeutig darauf schließen,
daß er mit einem dicken Wälzer aus Martin Mills’ Bibliothek in Berührung gekommen
war, vielleicht mit dem Kompakten Bibellexikon, das zwar kompakt war, aber keineswegs weich.
»Ich versichere
Ihnen, Sir, daß sich kein Zwerg in meinem Koffer befindet«, sagte Martin Mills,
aber Dr. Daruwalla zog ihn bereits fort. Ihm wurde allmählich klar, daß der Missionar
das ausgeprägte Bedürfnis hatte, mit jedermann zu reden.
In der Seitenstraße
entdeckten sie Vinod schlafend im Ambassador; der Zwerg hatte den Wagen zugesperrt.
An der Fahrertür lehnte genau der »Jedermann«, den Dr. Daruwalla am meisten fürchtete,
weil er sich vorstellen konnte, daß niemand eher missionarischen Eifer zu wecken
vermochte als ein verkrüppeltes Kind – außer vielleicht ein Kind, dem beide Arme
und beide Beine fehlten. Das aufgeregte Leuchten in den Augen des Scholastikers
verriet Farrokh, daß der Junge mit dem zerquetschten Fuß Martin Mills hinreichend
beflügelte.
Der Vogeldreckjunge
Es war
der Betteljunge vom Tag zuvor – der Junge, der an der Chowpatty Beach Kopfstände
gemacht hatte, der Krüppel, der [481] im Sand schlief. Während der Doktor den zerquetschten
rechten Fuß erneut als persönliche Beleidigung für das empfand, was er unter sauberer
chirurgischer Arbeit verstand, starrte Martin Mills wie hypnotisiert auf die schleimige
Absonderung um Ganeshs Augen. Vor seinem eigenen missionarischen Auge sah er das
leidgeprüfte Kind bereits ein Kruzifix umklammern. Der Scholastiker wandte seine
Augen nur eine Sekunde von dem Jungen ab – um gen Himmel zu blicken –, aber das
genügte dem kleinen Kerl, um Martin mit dem berüchtigten BombayerVogeldrecktrick
hereinzulegen.
Nach Dr. Daruwallas
Erfahrung war es ein schmutziger Trick, der normalerweise folgendermaßen funktionierte:
Während der kleine Schuft mit einer Hand zum Himmel deutete – auf einen nicht vorhandenen,
vorbeifliegenden Vogel –, spritzte er einem mit der anderen Dreck auf den Schuh
oder die Hose. Das Gerät, mit dem die angebliche »Vogelscheiße« appliziert wurde,
ähnelte diesen Dingern, mit deren Hilfe man beispielsweise einen Truthahn mit Fett
beträufelt, aber jede Art von Gummiballon mit einer spritzenähnlichen Tülle erfüllte
denselben Zweck. Die darin enthaltene Flüssigkeit war irgendein weißes Zeug – häufig
geronnene Milch oder Mehl mit Wasser –, aber wenn es auf dem Schuh oder der Hose
landete, sah es aus wie Vogelkacke. Wenn man den Blick wieder vom Himmel abwandte,
da man den Vogel nicht entdecken konnte, hatte man den Dreck auf dem Schuh oder
der Hose, und der hinterlistige kleine Bettler wischte ihn bereits mit einem griffbereiten
Lappen weg. Daraufhin belohnte man ihn natürlich mit mindestens einer oder zwei
Rupien.
Aber in diesem Fall
begriff Martin Mills nicht, daß eine Belohnung erwartet wurde. Er hatte zum Himmel
emporgeblickt, ohne daß der Junge hinzudeuten brauchte, worauf dieser flugs seine
Spritze herausgezogen und den abgewetzten schwarzen Schuh des Jesuiten angespritzt
hatte. Bei alledem war der Krüppel so flink gewesen, daß Dr. Daruwalla nur gesehen
hatte, wie [482] er die Spritze geschickt wieder unter sein
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