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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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vor dem Nachdenken war.
Es war keineswegs so einfach wie simples Fragenstellen, sondern eher ein Streben
nach Belehrung. Martins Herzenswunsch war es, Gottes Willen zu ergründen, und um
einen solchen Zustand der Vollkommenheit zu erreichen – eine Vereinigung mit Gott
in mystischer Ekstase –, brauchte es schon eine Engelsgeduld.
    Als Martin Mills
Dr. Aziz seinen Gebetsteppich aufrollen sah, wußte er, daß jetzt für ihn der richtige
Zeitpunkt gekommen war, um eine neue Übung aus Pater de Mellos Christlichen Übungen
in östlicher Form in Angriff zu nehmen – nämlich »Reglosigkeit«. Die meisten Leute konnten nicht ermessen,
wie unmöglich es war, absolut still zu stehen. Manchmal war es auch schmerzhaft,
aber Martin war gut darin. Er stand so still, daß zehn Minuten später ein vorüberfliegender
gabelschwänziger Falke beinahe auf seinem Kopf gelandet wäre. Daß der Vogel plötzlich
abdrehte, lag nicht daran, daß der Missionar auch nur geblinzelt hätte; das Licht,
das sich in seinen hellen Augen widerspiegelte, verscheuchte den Vogel.
    Unterdessen ging
Dr. Daruwalla rasch die Drohbriefe durch; in einem steckte ein beunruhigender Zwei-Rupien-Schein.
Der dazugehörige Umschlag war an Inspector Dhar adressiert und an das Filmstudio
geschickt worden. Auf der Seite mit der Seriennummer stand in maschinengeschriebenen
Großbuchstaben [478]  folgende Warnung: SIE SIND SO TOT WIE LAL . Natürlich würde der Doktor Kommissar
Patel den Geldschein zeigen, aber eigentlich mußte er sich nicht erst von ihm bestätigen
lassen, daß der Schreiber derselbe geisteskranke Kerl war, von dem auch die Botschaft
auf dem Geldschein in Mr. Lals Mund stammte.
    Dann stürzte Julia
ins Schlafzimmer. Sie hatte einen Blick ins Wohnzimmer geworfen, um festzustellen,
ob Martin Mills noch schlief, aber er lag nicht mehr auf der Couch. Die Glasschiebetüren
zum Balkon waren offen, aber da der Missionar auf dem Balkon so absolut still stand,
hatte sie ihn übersehen. Dr. Daruwalla stopfte den Zwei-Rupien-Schein in seine Tasche
und eilte auf den Balkon.
    Inzwischen hatte
der Missionar eine neue Andachtsübung in Angriff genommen – eine von Pater de Mellos
Übungen zum Themenbereich »Körperempfindungen« und »Gedankenkontrolle«. Dazu hob
Martin den rechten Fuß, bewegte ihn vorwärts und setzte ihn dann auf. Dieser Vorgang
wurde von einem Singsang begleitet: »Heben… heben… heben«, dann (natürlich) »bewegen…
bewegen… bewegen« und (schließlich) »aufsetzen… aufsetzen… aufsetzen«. Mit einem
Wort, er ging lediglich über den Balkon, allerdings übertrieben langsam, und kommentierte
dabei die ganze Zeit laut seine Bewegungen. Für Dr. Daruwalla sah Martin Mills aus
wie ein Patient, der nach einem Schlaganfall brav seine krankengymnastischen Übungen
absolviert. Er sah aus, als versuchte er, sich beizubringen, gleichzeitig zu sprechen und zu gehen – ohne großen Erfolg.
    Farrokh kehrte auf
Zehenspitzen ins Schlafzimmer und zu Julia zurück.
    »Vielleicht habe
ich seine Verletzungen unterschätzt«, meinte der Doktor. »Ich muß ihn in die Klinik
mitnehmen. Sicher ist es das beste, ihn wenigstens vorübergehend im Auge zu behalten.«
    Doch als sich die
Daruwallas dem Jesuiten behutsam [479]  näherten, hatte er bereits seine priesterliche
Kleidung angelegt und überprüfte gerade den Inhalt seines Koffers.
    »Sie haben nur meine culpa -Perlen und meine Freizeitkleidung
genommen«, bemerkte Martin. »Ich muß mir ein paar billige Sachen kaufen, wie man
sie hier trägt. In diesem Aufzug in St. Ignatius aufzukreuzen wäre Angeberei«, fügte
er lachend hinzu und zupfte an seinem blütenweißen Priesterkragen.
    Man durfte ihn auf
keinen Fall so in Bombay herumlaufen lassen, dachte Dr. Daruwalla. Was dieser Verrückte
brauchte, war unauffällige Kleidung, die es ihm ermöglichte, sich in das Straßenbild
einzufügen. Vielleicht könnte ich ihn dazu bringen, daß er sich den Kopf rasiert,
dachte der Doktor. Julia starrte Martin Mills mit offenem Mund an, doch sobald er
(abermals!) die Geschichte seiner ersten Begegnung mit der Stadt zu erzählen begann,
bezauberte er sie so restlos, daß sie wie ein Schulmädchen abwechselnd kokett und
schüchtern wurde. Für einen Mann, der ein Keuschheitsgelübde abgelegt hatte, war
der Jesuit bemerkenswert unbefangen im Umgang mit Frauen – zumindest mit einer älteren
Frau, dachte Dr. Daruwalla.
    Die vielfältigen
Anforderungen des bevorstehenden Tages schreckten Dr. Daruwalla

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