Zirkuskind
Hemd steckte. Martin Mills
glaubte, daß ein ungezogener Vogel auf seinen Schuh gekleckert hatte und der bedauerlich
verunstaltete Junge den Vogeldreck mit dem zerfetzten Stoff seiner ausgebeulten
kurzen Hose abwischte. Dem Missionar erschien dieses verstümmelte Kind eindeutig
vom Himmel geschickt.
In diesem Bewußtsein
fiel der Scholastiker in der Nebenstraße auf die Knie, was nicht der üblichen Reaktion
auf die ausgestreckte Hand des Betteljungen entsprach. Der Junge erschrak über die
Umarmung des Missionars. »O Gott, ich danke Dir!« rief Martin Mills aus, während
sich der Krüppel hilfesuchend nach Dr. Daruwalla umsah. »Heute ist dein Glückstag«,
sagte der Missionar zu dem völlig verwirrten Bettler. »Dieser Mann ist Arzt«, erklärte
er dem lahmen Jungen. »Dieser Mann kann deinen Fuß richten.«
»Ich kann seinen
Fuß nicht richten!« rief Dr. Daruwalla. »Erzählen Sie ihm nicht so was!«
»Na ja, er kann
sicher etwas machen, damit er besser aussieht!« entgegnete Martin. Der Krüppel duckte
sich wie ein in die Enge getriebenes Tier, während sein Blick zwischen den beiden
Männern hin und her schoß.
»Ich habe mir durchaus
schon Gedanken darüber gemacht«, sagte Farrokh abwehrend. »Aber ich bin sicher,
daß ich seinen Fuß nicht so hinkriegen kann, daß er funktionsfähig ist. Der Junge
schert sich einen Dreck darum, wie sein Fuß aussieht. Er wird trotzdem hinken!«
»Würde es dir nicht
gefallen, wenn dein Fuß schöner aussähe?« fragte Martin Mills den Krüppel. »Würde
es dir nicht gefallen, wenn er weniger wie ein Huf oder wie ein Klumpen aussähe?«
Während er sprach, legte er seine Hände wie einen Schutzschild um das zusammengewachsene
Knochengebilde aus Sprunggelenk und Fuß, das der Junge ungeschickt auf der Ferse
abstützte. Aus der Nähe betrachtet, bestätigte sich des Doktors frühere [483] Vermutung:
Er würde den Knochen durchsägen müssen. Die Chance auf Erfolg war gering, das Risiko
ziemlich groß.
»Primum
non nocere«, sagte Farrokh zu Martin Mills. »Ich nehme doch an, daß Sie Latein können.«
»›Vor allem füge
keinen Schaden zu‹«, antwortete der Jesuit.
»Ein Elefant ist
ihm auf den Fuß getreten«, erläuterte Dr. Daruwalla. Dann fiel ihm ein, was der
Krüppel gesagt hatte. Er wiederholte es dem Missionar, schaute dabei aber den Jungen
an: »Was Elefanten anrichten, kann man nicht reparieren.« Der Junge nickte, wenn
auch zögernd.
»Hast du eine Mutter
oder einen Vater?« fragte der Jesuit. Der Betteljunge schüttelte den Kopf. »Kümmert
sich denn jemand um dich?« fragte Martin. Wieder schüttelte der Krüppel den Kopf.
Dr. Daruwalla wußte, daß sich unmöglich feststellen ließ, wieviel der Junge verstand,
erinnerte sich aber, daß sein Englisch besser war, als er sich anmerken ließ – ein
schlauer Bursche.
»An der Chowpatty
Beach gibt es eine ganze Bande solcher Kinder«, sagte der Doktor. »Sie haben beim
Betteln eine bestimmte Hackordnung.« Aber Martin Mills hörte ihm gar nicht zu. Obwohl
er ansonsten eine gewisse »Bescheidenheit der Augen« walten ließ, die bei den Jesuiten
gefördert wurde, schaute er dem verkrüppelten Kind eindringlich in die schleimgeränderten
Augen. Der Junge war fasziniert.
»Aber es gibt jemanden,
der sich um dich kümmert«, sagte der Missionar zu dem Betteljungen. Der Krüppel
nickte zögernd.
»Hast du noch andere
Kleider als die da?« fragte er ihn nach einer Weile.
»Keine Kleider«,
sagte der Junge prompt. Er war unverhältnismäßig klein, aber durch das Leben auf
der Straße abgehärtet. Er mochte vielleicht acht oder zehn Jahre alt sein.
»Und wie lange ist
es her, seit du was zu essen hattest, ich meine, richtig viel?« fragte ihn Martin.
»Lange«, sagte der
Bettler. Er war höchstens zwölf Jahre alt.
[484] »Das können Sie
nicht machen, Martin«, sagte Farrokh. »In Bombay gibt es mehr solche Jungen, als
in ganz St. Ignatius Platz hätten. Sie würden weder in die Schule noch in die Kirche
noch ins Kloster passen. Sie würden nicht mal in den Schulhof oder auf den Parkplatz
passen!« rief er. »Es gibt zu viele Jungen wie ihn. Sie können nicht an Ihrem ersten
Tag hier anfangen, sie zu adoptieren!«
»Nicht ›sie‹, nur
diesen einen«, entgegnete der Missionar. »Der heilige Ignatius hat gesagt, er würde
sein Leben hingeben, wenn er damit die Sünden, die eine einzige Prostituierte in
einer einzigen Nacht begeht, verhindern könnte.«
»Aha, verstehe«,
sagte Dr. Daruwalla.
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