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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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habe ihn die ganze Zeit
im Bad reden gehört. Er muß doch irgendwas gesagt haben!«
    »Im Bad?« fragte
John D.
    »Er ist sehr entschlossen«,
sprudelte Farrokh hervor.
    [475]  »Ich würde meinen,
daß sich das aus dem Übereifer ergibt«, sagte Inspector Dhar ausgesprochen sarkastisch.
    Dr. Daruwalla ärgerte
sich, daß Julia und John D. aufgrund dieser einen, eigenartigen Begegnung von ihm
ein zusammenfassendes Urteil über den Charakter des Jesuiten erwarteten.
    Vielleicht hätte
es dem Doktor weitergeholfen, wenn er die Geschichte jenes anderen Glaubenseiferers
gekannt hätte, des größten Eiferers des sechzehnten Jahrhunderts, des heiligen Ignatius
von Loyola, der Martin Mills so nachhaltig beeindruckt hatte. Als Loyola starb,
nachdem er sich zeitlebens geweigert hatte, sich porträtieren zu lassen, wollten
die Ordensbrüder den Toten malen lassen. Ein berühmter Maler versuchte es und scheiterte.
Die Ordensbrüder erklärten, auch die Totenmaske, die das Werk eines Unbekannten
war, würde nicht das wahre Gesicht des Ordensgründers der Jesuiten wiedergeben.
Drei weitere Künstler versuchten, Loyola zu malen, und scheiterten; allerdings hatten
sie nur die Totenmaske als Vorlage. Schließlich gelangte man zu dem Ergebnis, daß
Gott nicht wollte, daß Ignatius von Loyola, Sein Diener, gemalt wurde. Dr. Daruwalla
konnte nicht wissen, wie sehr Martin Mills diese Geschichte liebte, aber es hätte
dem frischgebackenen Missionar zweifellos gefallen, wenn er miterlebt hätte, welch
große Mühe es dem Doktor bereitete, auch nur einen soeben flügge gewordenen Diener
Gottes zu beschreiben. Farrokh spürte, daß ihm das richtige Wort auf der Zunge lag,
aber dann entwischte es ihm wieder.
    »Er ist gebildet«,
brachte Farrokh heraus. John D. und Julia stöhnten. »Ach, verdammt noch mal, er
ist kompliziert!« schrie Dr. Daruwalla. »Es ist zu früh, um sagen zu können, wie
er ist!«
    »Schsch! Du weckst
ihn noch auf«, dämpfte ihn seine Frau.
    »Wenn es zu früh
ist, um sagen zu können, wie er ist«, meinte John D., »dann ist es für mich zu früh
zu entscheiden, ob ich ihn kennenlernen will.«
    [476]  Dr. Daruwalla
war verärgert. Er hatte das Gefühl, daß das wieder mal typisch Inspector Dhar war.
    Julia wußte, was
ihr Mann dachte. »Hüte deine Zunge«, warnte sie ihn. Sie machte Kaffee für sich
und John D. und eine Kanne Tee für Farrokh. Dann sahen die Daruwallas gemeinsam
ihrem geliebten Schauspieler nach, als er sie durch die Küchentür verließ. Dhar
nahm gern die Hintertreppe, um nicht gesehen zu werden. Der frühe Morgen – es war
kurz vor sechs Uhr – gehörte zu den wenigen Tageszeiten, zu denen er zu Fuß vom
Marine Drive ins Taj Mahal gehen konnte, ohne erkannt und sofort umringt zu werden.
Um diese Zeit schikanierten ihn nur die Bettler, aber die schikanierten alle Leute
gleichermaßen. Für sie spielte es keine Rolle, daß er Inspector Dhar war. Viele
Bettler gingen ins Kino, aber was kümmerte sie schon ein Filmstar?
    Stillstehen: eine Übung
    Um Punkt
sechs Uhr morgens, während Farrokh und Julia gemeinsam badeten – sie seifte ihm
den Rücken ein, er seifte ihre Brüste ein, aber ohne daß es zu einem ausführlicheren
Getändel gekommen wäre –, wachte Martin Mills auf und hörte die beruhigenden Geräusche
von Dr. Aziz, dem betenden Urologen. »Gelobt sei Allah, der Herr der Schöpfung.«
Dr. Aziz’ Anrufungen Allahs des Barmherzigen schwebten von seinem Balkon im fünften
Stock empor und brachten den Missionar im Nu auf die Beine. Obwohl er nur knapp
eine Stunde geschlafen hatte, fühlte er sich so erfrischt wie nach einer durchschlafenen
Nacht. Derart wieder zu Kräften gekommen, lief er auf Dr. Daruwallas Balkon hinaus,
von dem aus er das morgendliche Ritual überblicken konnte, das Urologen-Aziz auf
seinem Gebetsteppich vollführte. Von der Daruwallaschen Wohnung im sechsten Stock
aus hatte man einen phantastischen Blick auf die Back [477]  Bay, von Malabar Hill auf
der einen bis hinüber zum Nariman Point auf der anderen Seite; in der Ferne an der
Chowpatty Beach hatte sich bereits eine kleine Menschenmenge versammelt. Aber der
Jesuit war nicht der Aussicht wegen nach Bombay gekommen. Er verfolgte Dr. Aziz’
Gebete mit höchster Konzentration. Aus der Frömmigkeit anderer konnte man immer
dazulernen.
    Martin Mills betrachtete
es nicht als selbstverständlich, daß Menschen beteten. Er wußte, daß Beten nicht
dasselbe war wie Nachdenken und daß es auch keine Flucht

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