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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Aber die pechschwarzen
Augen, die in dem wilden Gesicht des Krüppels aufblitzten, waren unergründlich;
entweder hatte er die Frage nicht verstanden, oder er hielt es für taktisch klüger,
den Mund zu halten – ein schlauer Junge.
    »Sie dürfen ihn
auf keinen Fall Vogeldreckjunge nennen!« protestierte der Missionar.
    »Ganesh?« sagte
Dr. Daruwalla. »Ich glaube, du bist auch gefährlich, Ganesh.« Die schwarzen Augen
sahen rasch zu Martin Mills hinüber; dann hefteten sie sich wieder auf Farrokh.
    [487]  »Danke«, sagte
Ganesh.
    Vinod hatte das
letzte Wort. Im Gegensatz zu dem Missionar ließ sich der Zwerg nicht automatisch
dazu hinreißen, Krüppel zu bemitleiden.
    »He du, Vogeldreckjunge«,
sagte Vinod. »Du bist garantiert gefährlich.«

[488]  16
    Mr. Gargs Mädchen
    Irgendeine kleine Geschlechtskrankheit
    Deepa
hatte den Nachtzug nach Bombay genommen; sie kam aus Gujarat, aus irgendeiner Kleinstadt,
in der der Great Blue Nile gastierte. Sie hatte mit Dr. Daruwalla verabredet, daß
sie die weggelaufene Kindprostituierte zu ihm in die Klinik für Verkrüppelte Kinder
bringen und bei der Untersuchung dabeisein würde; immerhin war es der erste Arztbesuch
des Mädchens. Deepa rechnete nicht damit, daß der Kleinen irgend etwas fehlte. Sie
hatte vor, sie auf der Rückfahrt in den Great Blue Nile gleich mitzunehmen. Zwar
stimmte es, daß das Mädchen aus einem Bordell weggelaufen war, angeblich jedoch
– nach Aussage von Mr. Garg – zu einem Zeitpunkt, als sie noch Jungfrau war. Dr.
Daruwalla glaubte das nicht.
    Sie hieß Madhu,
das bedeutet »süß«. Sie hatte unverhältnismäßig große, schlaffe Hände und Füße und
einen unverhältnismäßig kleinen Körper – wie diese großpfotigen Welpen, von denen
man immer annimmt, daß eines Tages große Hunde aus ihnen werden. Aber in Madhus
Fall war das ein Zeichen von Unterernährung; ihr Körper hatte mit dem Wachstum von
Händen und Füßen nicht Schritt halten können. Auch Madhus Kopf war nicht so groß,
wie er auf Anhieb aussah. Das längliche, ovale Gesicht paßte überhaupt nicht zu
ihrem zierlichen Körper. Ihre vorstehenden Augen waren braungelb wie bei einem Löwen,
wirkten aber geistesabwesend und weit weg. Ihre Lippen waren voll und fraulich und
viel zu erwachsen für ihr noch unausgereiftes Gesicht, das nach wie vor ein Kindergesicht
war.
    [489]  Madhus besonderer
Reiz für das Bordell, aus dem sie weggelaufen war, bestand darin, daß sie eine Kindfrau
war. Diese Ambivalenz spiegelte sich auch in ihrem unterentwickelten Körper. Sie
hatte keine Hüften – das heißt, sie hatte die Hüften eines Jungen –, aber ihre Brüste
waren, wenn auch lächerlich klein, ebenso ausgeformt und weiblich wie ihr unwiderstehlicher
Mund. Obwohl Mr. Garg Deepa gesagt hatte, daß das Kind noch nicht geschlechtsreif
sei, vermutete Dr. Daruwalla, daß die Periode bei Madhu nur deshalb noch nicht eingesetzt
hatte, weil sie nie genug zu essen bekommen hatte und überarbeitet war. Achsel-
und Schamhaare jedenfalls waren dem Mädchen schon gewachsen, nur hatte jemand sie
sorgfältig abrasiert. Farrokh ließ Deepa die winzigen Stoppeln unter Madhus Armen
fühlen.
    Des Doktors Erinnerung
an seine zufällige Begegnung mit Deepas Schambein meldete sich bei den merkwürdigsten
Gelegenheiten. Als er sah, wie die Frau des Zwergs die Achselhöhle des jungen Mädchens
berührte, erschauerte er. Es war die drahtige Kraft in der Hand der ehemaligen Fliegerin,
an die sich der Doktor erinnerte – wie sie ihn am Kinn gepackt hatte, als er mühsam
versucht hatte, seinen Nasenrücken von ihrem Schambein wegzuheben, wie sie seinen
Kopf einfach mit einem Ruck aus ihrem Schritt gerissen hatte. Und er hatte das Gleichgewicht
verloren, so daß er mit der Stirn auf ihrem Bauch und auf den kratzigen Pailletten
ihres Trikots gelandet war und fast mit seinem ganzen Gewicht auf ihr ruhte. Doch
Deepa hatte mit nur einer Hand sein Kinn zur Seite gedreht und ihn hochgewuchtet.
So viel Kraft hatten ihre Hände durch die Arbeit am Trapez bekommen. Und jetzt genügte
der Anblick von Deepas sehniger Hand in der Achselhöhle des Mädchens, damit Farrokh
sich abwendete – nicht von dem entblößten Mädchen, sondern von Deepa.
    Da wurde Farrokh
klar, daß sich Deepa wahrscheinlich mehr Unschuld bewahrt hatte als Madhu – sofern
bei der überhaupt [490]  ein Quentchen davon übrig war –, denn die Frau des Zwergs war
nie eine Prostituierte gewesen. Die Gleichgültigkeit, mit der sich Madhu

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