Zirkuskind
bis an den
Glastisch heran – als wäre Mills ein verseuchter Leichnam –, aber der Doktor forderte
sie auf, ihn sich genauer anzusehen. Je näher sich Julia an Martin Mills heranwagte,
um so entspannter wurde sie. Es war, als hätte Martin – zumindest wenn er schlief
– eine beruhigende Wirkung auf seine Umgebung. Schließlich setzte sich Julia neben
die Couch auf den Boden. Später meinte sie, er würde sie an John D. erinnern, als
er noch jung und unbeschwert war, doch Farrokh blieb dabei, daß Martin Mills lediglich
das Ergebnis von null Gewichtheben und null Bier sei – womit er meinte, daß er keine
Muskeln hatte, aber auch keinen Bauch.
Ohne sich zu erinnern,
wann er sich hingesetzt hatte, fand sich der Doktor auf dem Boden neben seiner Frau
wieder. Als [473] Dhar vom Balkon hereinkam, um zu duschen und sich die Zähne zu putzen,
hockten beide wie erstarrt vor dem schlafenden Körper. Aus Dhars Perspektive schienen
Farrokh und Julia zu beten. Dann sah der Schauspieler die tote Gestalt – wenigstens
machte sie auf ihn einen toten Eindruck –, und ohne allzu genau hinzusehen, fragte
er: »Wer ist denn das?«
Farrokh und Julia
waren entsetzt, daß John D. seinen Zwillingsbruder nicht auf Anhieb erkannte. Schließlich
sollte man meinen, daß einem Schauspieler das eigene Gesicht besonders vertraut
ist – sogar mit unterschiedlichstem Make-up, wodurch sich unter anderem auch das
Alter entscheidend verändern läßt –, aber Dhar hatte an sich selbst nie einen solchen
Gesichtsausdruck wahrgenommen. Man darf bezweifeln, daß sein Gesicht je Glückseligkeit
widerspiegelte, denn nicht einmal im Schlaf konnte sich Inspector Dhar himmlisches
Entzücken vorstellen. Dhar hatte viele Gesichter, aber keines davon erinnerte an
einen Heiligen.
Schließlich flüsterte
der Schauspieler: »Ja klar, ich sehe schon, wer es ist, aber was hat er hier zu
suchen? Liegt er im Sterben?«
»Er möchte Priester
werden«, flüsterte Farrokh.
»Jesus Christus!«
sagte John D. Entweder hatte er zu laut gesprochen, oder der Name, den er aussprach,
gehörte zu denen, die Martin Mills überall heraushörte. Jedenfalls glitt über das
schlafende Gesicht des Missionars ein so ungeheuer dankbares Lächeln, daß sich Dhar
und die Daruwallas plötzlich schämten. Wortlos gingen sie auf Zehenspitzen in die
Küche, als wäre es ihnen allen gleichermaßen peinlich, daß sie jemanden heimlich
beim Schlafen beobachtet hatten. Doch was sie in Wirklichkeit aus der Fassung gebracht
hatte und ihnen das Gefühl gab, daß sie hier nichts zu suchen hatten, war die extreme
Zufriedenheit dieses Menschen, der im Augenblick seinen Seelenfrieden gefunden hatte
– obwohl keiner von ihnen den Grund für ihre Verwirrung genau hätte benennen können.
[474] »Was fehlt ihm
denn?« fragte Dhar.
»Nichts fehlt ihm!«
sagte Dr. Daruwalla. Dann überlegte er, warum er das von einem Mann behauptete,
der gepeitscht und geschlagen worden war, während er Transvestiten-Prostituierte
zu bekehren versucht hatte. »Ich hätte dir sagen sollen, daß er kommt«, fügte der
Doktor einfältig hinzu, worauf John D. nur die Augen verdrehte. Seine Zornesäußerungen
waren häufig untertrieben. Julia verdrehte ebenfalls die Augen.
»Was mich betrifft«,
sagte Farrokh zu John D., »ist es einzig und allein deine Entscheidung, ob er erfahren
soll, daß es dich gibt, oder nicht. Obwohl ich nicht weiß, ob jetzt der richtige
Zeitpunkt wäre, es ihm zu sagen.«
»Jetzt auf keinen Fall«, meinte Dhar. »Sag mir lieber, wie er so
ist.«
Das erste Wort,
das Dr. Daruwalla auf die Lippen kam, konnte er nicht aussprechen – »verrückt«.
Nach reiflicher Überlegung hätte er beinahe gesagt: Wie du, nur daß er viel redet.
Aber das war ein krasser Widerspruch – allein die Vorstellung, daß Dhar viel redete,
hätte diesen womöglich gekränkt.
»Ich habe gefragt,
wie er so ist?« wiederholte John D.
»Ich habe ihn erst
gesehen, als er schon geschlafen hat«, sagte Julia zu John D. Beide schauten Farrokh
an, der wirklich nicht wußte, was er auf die Frage antworten sollte. Kein einziger
Vergleich fiel ihm ein, obwohl der Missionar es geschafft hatte, mit ihm zu diskutieren,
ihm einen Vortrag zu halten und ihn sogar zu belehren – und all das, während er
nackt vor ihm gestanden hatte.
»Er ist ein bißchen
übereifrig«, sagte der Doktor vorsichtig.
»Übereifrig?« wiederholte
Dhar.
»Ist das alles,
was du über ihn sagen kannst, Liebchen?« fragte Julia. »Ich
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