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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ausgezogen
hatte, damit Dr. Daruwalla sie oberflächlich untersuchen konnte, legte den Schluß
nahe, daß das Mädchen wahrscheinlich eine erfahrene Prostituierte war. Farrokh wußte,
wie peinlich es den meisten Kindern in Madhus Alter war, sich auszuziehen. Schließlich
war er nicht nur Arzt, sondern hatte selbst Töchter.
    Madhu sagte kein
Wort. Vielleicht begriff sie nicht, warum sie untersucht wurde, oder sie schämte
sich. Als sie ihre Brüste bedeckte und eine Hand auf den Mund legte, sah sie aus
wie ein achtjähriges Kind. Aber Dr. Daruwalla nahm an, daß sie mindestens dreizehn
oder vierzehn war.
    »Ich bin sicher,
daß jemand anderer sie rasiert hat. Das hat sie nicht selbst gemacht«, erklärte
er Deepa. Aufgrund seiner Recherchen für Inspector Dhar und der Käfigmädchen-Killer wußte der Doktor so einiges über
die Bombayer Bordelle. Jungfräulichkeit war dort eine Bezeichnung für den Marktwert,
nicht für den tatsächlichen Zustand. Vielleicht mußte ein Mädchen rasiert sein,
um wie eine Jungfrau auszusehen. Dem Doktor war auch bekannt, daß sich die meisten
älteren Prostituierten ebenfalls rasierten, weil Schamhaare und Achselhaare zu leicht
Läuse anlockten.
    Die Frau des Zwergs
war enttäuscht. Sie hatte gehofft, Dr. Daruwalla würde der erste und einzige Arzt
sein, den Madhu aufsuchen mußte. Dr. Daruwalla sah das nicht so. Er fand Madhu beunruhigend
reif. Nicht einmal Deepa zuliebe konnte er dem Mädchen ohne Bedenken ein Gesundheitsattest
ausstellen, ohne es erst zu einem Gynäkologen zu schicken – zu Tata Zwo, wie er
allgemein genannt wurde.
    Dr. Tata (der Sohn)
war nicht der beste Gynäkologe und Geburtshelfer in Bombay, sah sich aber, wie vor
ihm sein Vater, jede von einem anderen Arzt überwiesene Patientin sofort an. [491]  Dr.
Daruwalla argwöhnte schon lange, daß diese Überweisungen den Hauptbestandteil seiner
Praxis ausmachten. Er bezweifelte, daß viele Patientinnen bereit gewesen wären,
Tata Zwo ein zweites Mal aufzusuchen. Obwohl er die Adjektive »beste« und »berühmteste«
von seinem Schild gestrichen hatte – die Klinik hieß jetzt DR. TATAS KLINIK
FÜR GYNÄKOLOGIE & GEBURTSHILFE  –, war sie bekanntermaßen äußerst mittelmäßig. Hätte eine von Dr.
Daruwallas orthopädischen Patientinnen gynäkologische Beschwerden gehabt, hätte
er sie nie und nimmer an Tata Zwo überwiesen. Aber für eine Routineuntersuchung
– für ein einfaches Gesundheitsattest oder für die Abklärung von Geschlechtskrankheiten
– genügte Tata Zwo. Vor allem war Tata Zwo schnell.
    In Madhus Fall war
er erstaunlich schnell. Während Vinod Deepa und Madhu zu Dr. Tatas Praxis fuhr,
wo die beiden auch nur kurz warten mußten, versuchte Farrokh, Martin Mills davon
abzuhalten, sich zu heftig für diese Sache zu engagieren, die der Zwerg und seine
Frau mit geradezu religiösem Eifer betrieben. Nachdem Vinod das Mitgefühl des Scholastikers
für den elefantenfüßigen Betteljungen miterlebt hatte, sicherte er sich umgehend
auch in Madhus Fall die Unterstützung des berühmten Inspector Dhar. Leider war es
unmöglich gewesen, dem Missionar zu verheimlichen, daß das einzige nicht verkrüppelte
Kind in Dr. Daruwallas Wartezimmer eine Prostituierte war oder zumindest gewesen
war.
    Schon bevor Dr.
Daruwalla Madhus Untersuchung abgeschlossen hatte, war das Unheil geschehen: Martin
Mills war Feuer und Flamme für Vinods und Deepas verrückte Idee, daß alle aus den
Bordellen von Bombay weggelaufenen Mädchen Zirkusartistinnen werden könnten. Kindprostituierte
in den Zirkus zu schicken war in Martins Augen ein Schritt auf dem Weg zur Rettung
ihrer Seelen. Farrokh fürchtete sich vor dem, was als nächstes kommen würde – das
heißt, sobald Martin auf die Idee [492]  kam. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der
Missionar überzeugt sein würde, daß Ganesh, der elefantenfüßige Junge, seine kleine
Seele ebenfalls im Zirkus würde retten können. Dr. Daruwalla wußte, daß es gar nicht
genug Zirkusse gab, um all die Kinder aufzunehmen, die der Jesuit glaubte retten
zu können.
    Dann rief Dr. Tata
wegen Madhu an. »Ja, sie ist zweifellossexuell aktiv – sie hatte mehr Partner, als
man zählen kann! –, und jawohl, sie hat irgendeine kleine Geschlechtskrankheit«,
sagte Tata Zwo. »Aber unter den gegebenen Umständen könnte es viel schlimmer sein.«
    »Und Sie testen
auch, ob sie HIV -positiv
ist?« fragte Dr. Daruwalla.
    »Wir machen einen
Test und geben Ihnen dann Bescheid«, sagte

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