Zirkuskind
ein Löwe entkommen wäre. Zwei Motorräder
rasten in einer riesigen Metallgitterkugel gegenläufig im Kreis. Diese Kugel hieß
Todeskugel, weil ein Zusammenstoß den sicheren Tod der beiden Fahrer bedeutet hätte.
Doch Dr. Daruwalla stellte sich vor, daß sie deshalb so hieß, weil das Geräusch
der Motorräder die Schreie der Pfauenmädchen übertönt hätte.
Als der Doktor Suman
zum erstenmal gesehen hatte, half sie gerade den kleinen Mädchen in ihre Pfauenkostüme.
Sie war wie eine Mutter zu ihnen, obwohl sie selbst keine Kinder hatte.Irgendwie
hatte Farrokh den Eindruck, daß Suman die kleinen Mädchen zum letztenmal anzog.
Sie würden aus der Manege [495] hinauslaufen, die Nummer mit der Todeskugel würde beginnen,
und der entflohene Löwe würde bereits auf dem dunklen Weg zwischen den Wohnzelten
auf sie warten.
Vielleicht würde
Madhu, falls sie nicht HIV -positiv
war, ein Pfauenmädchen im Great Blue Nile werden. Aber ob sie nun HIV -positiv war oder ein Pfauenmädchen
wurde – Dr. Daruwalla schätzte ihre Chancen ziemlich gering ein. Gargs Mädchen brauchten
immer mehr als eine Portion Tetracyclin.
Martin Luther wird anfechtbar zitiert
Martin
Mills hatte darauf bestanden, Dr. Daruwalla bei seiner ärztlichen Tätigkeit zuzusehen,
weil er der Meinung war, daß der Doktor »das Werk des Herrn« verrichte. Das hatte
der Glaubenseiferer verkündet, noch bevor er einen einzigen von Dr. Daruwallas Patienten
gesehen hatte. Konnte man Jesus denn näher sein, als wenn man verkrüppelte Kinder
heilte? Diese Tätigkeit stand, wie Farrokh vermutete, ganz oben auf derselben Stufe
wie die Errettung ihrer kleinen Seelen. Er hatte dem Missionar gestattet, ihm wie
ein Schatten zu folgen, aber nur, weil er beobachten wollte, wie sich dieser von
den Schlägen erholte. Der Doktor hatte sorgfältig nach Anzeichen für eine gravierende
Kopfverletzung Ausschau gehalten, aber Martin Mills widerlegte diese Theorie hartnäckig.
Seine spezifische Verrücktheit schien keineswegs traumatisch bedingt, sondern war
offenbar die Folge blinder Überzeugung und konsequenter Erziehung. Nach ihren gemeinsamen
Erlebnissen in der Fashion Street wagte es Dr. Daruwalla nicht mehr, den verrückten
Scholastiker in Bombay frei herumlaufen zu lassen, hatte aber auch noch keine Zeit
gefunden, ihn nach St. Ignatius und damit, wie er hoffte, in Sicherheit zu bringen.
Martin Mills hatte
das riesige Konterfei von Inspector Dhar [496] auf den neuen Filmplakaten, die über
den Ständen des Kleiderbasars in der Fashion Street angeschlagen waren, überhaupt
nicht bemerkt. Werbeplakate für andere Filme hingegen waren ihm schon aufgefallen.
Unmittelbar neben Inspector Dhar und die Türme des Schweigens hing ein Plakat für den Film Ein Mann sieht
rot mit einem
überdimensionalen Kopf von Charles Bronson.
»Der sieht ja aus
wie Charles Bronson!« bemerkte der Jesuit.
»Das ist Charles Bronson«, belehrte ihn Farrokh.
Bei dem Bild von Inspector Dhar hingegen bemerkte der Missionar keinerlei Ähnlichkeit
mit sich selbst. Doch die Kleiderhändler warfen dem Jesuiten haßerfüllte Blicke
zu. Einer weigerte sich, ihm etwas zu verkaufen; der Scholastiker nahm an, daß er
eben nichts in der passenden Größe da hatte. Ein anderer schrie Martin Mills an,
sein Auftauchen in der Fashion Street sei lediglich ein Werbetrick, um dem neuen
Film Publicity zu verschaffen. Auf diese Idee kam er wahrscheinlich deshalb, weil
der Missionar den verkrüppelten Betteljungen unbedingt tragen wollte. Der Vorwurf
war auf Marathi erfolgt, worauf der elefantenfüßige Junge auf einen Ständer mit
Kleidungsstücken spuckte und damit die Situation noch mehr anheizte.
»Aber, aber, auch
wenn sie dich schmähen, lächle einfach. Bezeuge ihnen Nächstenliebe«, hatte Martin
Mills zu dem verkrüppelten Jungen gesagt. Offenbar nahm er an, daß Ganesh mit seinem
zerquetschten Fuß den Ausbruch verursacht hatte.
Es war ein Wunder,
daß sie lebend aus der Fashion Street entkamen. Anschließend konnte Dr. Daruwalla
Martin Mills sogar dazu überreden, sich die Haare schneiden zu lassen. Sie waren
an sich schon kurz genug, aber der Doktor hatte ihm weisgemacht, daß das Wetter
zunehmend heißer würde und daß sich in Indien viele Asketen und Mönche die Köpfe
kahlscheren ließen. Der Haarschnitt, den Farrokh in Auftrag gab – für drei Rupien
bei einem dieser Straßenfriseure, die am Ende der Kleiderständer in [497] der Fashion
Street herumlungerten –, kam einem
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