Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Dr. Tata.
    »Was haben Sie denn gefunden?« fragte Farrokh. »Tripper?«
    »Nein, aber sie
hat eine Entzündung am Gebärmutterhals und leichten Ausfluß«, erklärte Dr. Tata.
»Sie hat alle Symptome einer Urethritis, aber keine Beschwerden… die Harnröhre ist
so geringfügig entzündet, daß man es übersehen könnte. Ich tippe auf Chlamydien.
Ich werde ihr Tetracyclin verschreiben. Aber eine durch Chlamydien hervorgerufene
Infektion läßt sich nur schwer diagnostizieren, denn wie Sie wissen, sind Chlamydien
unter dem Mikroskop nicht zu sehen.«
    »Ja, ja«, sagte
Dr. Daruwalla ungeduldig. Er hatte es nicht gewußt, aber es interessierte ihn auch
nicht. Er hatte schon genug Vorträge für einen Tag gehört, angefangen mit einem
aufgewärmten Sermon über die Reformation und die jesuitische Auffassung des freien
Willens. Er wollte einzig und allein wissen, ob Madhu sexuell aktiv war. Und ob
es irgendeine Geschlechtskrankheit gab, die er dem säurenarbigen Mr. Garg anhängen
konnte. Sämtliche vorangegangenen Entdeckungen von Mr. Garg hatten irgendeine Geschlechtskrankheit
gehabt, und der Doktor hätte die Schuld dafür zu gern Garg in die Schuhe geschoben.
Er glaubte [493]  nicht, daß sich die Mädchen diese Geschlechtskrankheiten immer in
dem Bordell geholt hatten, aus dem sie weggelaufen waren. Am meisten wünschte sich
Dr. Daruwalla – ohne daß er hätte erklären können, warum –, er könnte Deepas und
Vinods offensichtlich gute Meinung von Mr. Garg erschüttern. Warum wollten der Zwerg
und seine Frau denn nicht sehen, wie unglaublich ekelhaft Mr. Garg war?
    »Also, wenn sie
nicht HIV -positiv ist, würden Sie sie dann
als nicht ansteckend bezeichnen?« fragte Farrokh Tata Zwo.
    »Nach der Behandlung
mit Tetracyclin, und vorausgesetzt, daß man sie nicht ins Bordell zurückläßt«, sagte
Dr. Tata.
    Und vorausgesetzt,
Deepa bringt das Mädchen nicht wieder ins Wetness Cabaret oder zu Mr. Garg zurück,
dachte Farrokh. Ihm war klar, daß Deepa zum Great Blue Nile zurückkehren mußte,
bevor er das Ergebnis von Madhus Aidstest kannte. Vinod würde sich um Madhu kümmern
und sie von Garg fernhalten müssen; bei dem Zwerg wäre das Mädchen in Sicherheit.
    Unterdessen bemerkte
der Doktor, daß Martin Mills’ moralische Aufdringlichkeit vorübergehend dadurch
in Schranken gehalten wurde, daß der Missionar ganz gebannt Farrokhs Lieblingsfoto
aus dem Zirkus betrachtete, das auf dem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer stand.
Es war ein Bild von Pratap Singhs Adoptivschwester Suman, dem Star des Great Royal
Circus. Suman trug ihr Kostüm für den Pfauentanz und half im Sattelgang hinter dem
Spielzelt zwei kleinen Mädchen in ihre Pfauenkostüme. Die Pfauen wurden immer von
kleinen Mädchen dargestellt. Suman setzte ihnen die Pfauenköpfe auf und stopfte
ihre Haare unter die blaugrünen Federn der langen Pfauenhälse.
    Der Pfauentanz wurde
in allen indischen Zirkussen gezeigt. (Indiens Wappentier ist der Pfau.) Im Great
Royal spielte Suman jene Frau aus der Legende, deren Geliebter mit einem Zauber
belegt wird, so daß er sie vergißt. Sie tanzt im Mondlicht mit zwei Pfauen; an Fuß-
und Handgelenken trägt sie Glöckchen.
    [494]  Doch daß der
Pfauentanz Dr. Daruwalla verfolgte, lag weder an Sumans Schönheit noch an den kleinen
Mädchen in ihren Pfauenkostümen. Vielmehr hatte er immer das Gefühl, daß die kleinen
Mädchen (die Pfauen) jeden Augenblick sterben mußten. Die Musik zu diesem Tanz war
leise und unheimlich, so daß man im Hintergrund die Löwen hören konnte. Draußen,
in der Dunkelheit außerhalb der Manege, wurden die Löwen aus ihren Käfigen in den
Laufgang gebracht, einen langen, röhrenartigen Gittertunnel, der in die Manege führte.
Dieses Laufgitter mochten die Löwen überhaupt nicht. Sie kämpften miteinander, weil
sie zu dicht auf den Boden gedrückt wurden und weder zurück in ihre Käfige noch
hinaus in die Manege konnten. Farrokh hatte sich immer vorgestellt, daß ein Löwe
entfliehen würde. Wenn die Pfauenmädchen ihren Tanz beendet hatten und in ihr Wohnzelt
zurückliefen, würde der entflohene Löwe sie auf dem dunklen Weg dorthin erwischen
und töten.
    Nach dem Pfauentanz
bauten die Requisiteure in der Manege den Zentralkäfig auf. Um das Publikum abzulenken,
während sie die Käfiggitter und die Feuerreifen aufstellten, wurde im Eingang zum
Spielzelt eine Motorradnummer gezeigt. Sie war so wahnwitzig laut, daß niemand die
Pfauenmädchen hätte schreien hören, falls

Weitere Kostenlose Bücher