Zirkuskind
kahlrasierten Kopf ziemlich nahe. Doch selbst
als »Skinhead« haftete Martin Mills noch etwas von Inspector Dhars aggressivem Wesen
an. Die Ähnlichkeit ging weit über das familienspezifische Hohnlächeln hinaus.
John D. redete wenig,
war aber trotzdem unglaublich hartnäckig und eigensinnig; wenn er jedoch vor der
Kamera stand, konnte er seinen Text immer haargenau. Martin Mills hingegen machte
den Mund überhaupt nie zu. Aber war das, was Martin daherredete, nicht auch nur
auswendig gelernt? War das nicht der Text eines Schauspielers anderer Art, eines
überzeugten Gläubigen mit dem unbezähmbaren Bedürfnis, sich einzumischen? Waren
die Zwillinge nicht beide unglaublich hartnäckig und eigensinnig? Auf alle Fälle
waren beide stur.
Verwundert stellte
der Doktor fest, daß sich nur knapp die Hälfte der Leute, die ihnen an diesem Tag
in Bombay begegneten, nach dem vermeintlichen Inspector Dhar umdrehten; fast ebenso
vielen fiel er überhaupt nicht auf. Vinod, der Dhar gut kannte, zweifelte keinen
Augenblick daran, daß Martin Dhar war. Deepa kannte Dhar ebenfalls, ließ sich von
dem Ruhm des Filmstars aber nicht beeindrucken. Da sie nie einen Inspector-Dhar-Film
gesehen hatte, sagte ihr die Filmfigur nichts. Als Deepa in Dr. Daruwallas Wartezimmer
dem Missionar begegnete, hielt sie ihn auf Anhieb für das, was er war: für einen
amerikanischen Humanitätsapostel. Aber das war schon lange ihre Meinung über Dhar.
Sie hatte zwar nie einen Inspector-Dhar-Film gesehen, dafür aber Dhars TV-Clips
zugunsten der Klinik für Verkrüppelte Kinder. Deepa hatte Dhar immer als Humanitätsapostel
und Nichtinder empfunden. Ranjit hingegen ließ sich nicht täuschen. Der Arzthelfer
sah zwischen dem gebrechlichen Missionar und Dhar nur sehr wenig Ähnlichkeit. Er
kam nicht einmal auf die Idee, daß die beiden Zwillinge sein könnten, sondern flüsterte
Dr. Daruwalla lediglich zu, er hätte gar nicht [498] gewußt, daß Dhar einen Bruder
habe. Da Martin Mills so grauenhaft aussah, hielt Ranjit ihn für Dhars älteren Bruder.
Dr. Daruwalla lag
in erster Linie daran, Martin Mills im ungewissen zu lassen. Sobald er ihn in St.
Ignatius abgeliefert hatte, würde er für immer im ungewissen gelassen – wenigstens
hoffte das der Doktor. Er wollte John D. die Entscheidung überlassen, ob er seinen
Zwillingsbruder kennenlernen wollte oder nicht. Aber im Untersuchungs- und im Wartezimmer
war es schwierig gewesen, Martin Mills von Vinod und Deepa fernzuhalten. Da er die
beiden nicht darüber aufklären wollte, daß der Missionar in Wirklichkeit Dhars Zwillingsbruder
war, blieb Dr. Daruwalla nichts anderes übrig, als den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Auf Vinods Anregung
hin wurden Madhu und Ganesh miteinander bekannt gemacht, als hätten eine dreizehnjährige
Prostituierte und ein zehnjähriger Betteljunge, dem angeblich ein Elefant auf den
Fuß getreten war, von vornherein eine Menge Gemeinsamkeiten. Zu Dr. Daruwallas Überraschung
verstanden sich die Kinder auf Anhieb. Madhu war ganz aufgeregt, als sie erfuhr,
daß Ganeshs häßliche Augenkrankheit vielleicht bald behoben werden konnte – wenn
nicht gar der häßliche Fuß. Und Ganesh bildete sich ein, daß er es im Zirkus ebenfalls
zu etwas bringen könnte.
»Mit dem Fuß?« fragte
Farrokh. »Was könntest du mit diesem Fuß im Zirkus schon machen?«
»Na ja, es gibt
auch Sachen, die er mit den Armen machen kann«, antwortete Martin Mills. Dr. Daruwalla
befürchtete, daß der Jesuit darauf trainiert war, jedes pessimistische Argument
zu widerlegen.
»Vinod«, beschwor
Farrokh den Zwerg. »Könnte ein Junge, der so humpelt, auch nur als Requisiteur tätig
sein? Kannst du dir vorstellen, daß sie ihn den Elefantendreck wegschaufeln lassen?
Hinter einer Schubkarre könnte er vermutlich herhinken…«
»Clowns hinken auch«,
entgegnete Vinod. »Ich zum Beispiel hinke«, fügte der Zwerg hinzu.
[499] »Dann meinst
du also, daß er hinken und sich auslachen lassen könnte, wie ein Clown«, sagte Dr.
Daruwalla.
»Es gibt immer Arbeit
im Küchenzelt«, sagte Vinod hartnäckig. »Er könnte den Teig für die chapatis kneten und ausrollen. Er könnte
den Knoblauch und die Zwiebeln für das dhal kleinschneiden.«
»Aber warum sollten
sie ausgerechnet ihn nehmen, wo es für solche Arbeiten doch unzählige Jungen mit
zwei gesunden Füßen gibt?« fragte Dr. Daruwalla. Er behielt den Vogeldreckjungen
im Augen, da er wußte, daß seine entmutigenden Argumente womöglich mit
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