Zirkuskind
Mißfallen
– und einer entsprechenden Portion Vogeldreck – quittiert würden.
»Wir könnten dem
Zirkus klarmachen, daß sie die beiden zusammen nehmen müssen!« rief Martin. »Madhu und Ganesh. Wir könnten sagen, daß sie
Geschwister sind, die sich umeinander kümmern!«
»Mit anderen Worten,
wir könnten lügen«, sagte Dr. Daruwalla.
» Ich könnte lügen, um dieser Kinder willen!«
sagte der Missionar.
»Das traue ich Ihnen
ohne weiteres zu!« rief Farrokh. Er war frustriert, weil ihm das vernichtende Lieblingsargument
seines Vaters gegen Martin Luther nicht einfiel. Was hatte der alte Lowji über Luthers
Rechtfertigung der Lüge gesagt? Farrokh wünschte, er könnte den Scholastiker mit
einem, soweit er sich erinnerte, treffenden Zitat überraschen, aber statt dessen
überraschte Martin Mills ihn.
»Sie sind doch Protestant,
oder?« fragte der Jesuit den Doktor. »Sie sollten sich an den Rat ihres alten Freundes
Luther halten: »›Was wäre es, ob einer schon um Besseres willen eine gute, starke
Lüge täte…‹«
»Luther ist nicht
mein alter Freund!« gab Dr. Daruwalla zurück. Außerdem hatte Martin Mills beim Zitieren
etwas [500] ausgelassen, aber Farrokh konnte sich nicht erinnern, was es war. Was fehlte,
war der Zusatz, daß die Lüge nicht nur einem guten Zweck dienen, sondern auch »um…
der christlichen Kirche willen« erfolgen mußte. Farrokh wußte, daß man ihn reingelegt
hatte, aber er wußte zu wenig, um sich verteidigen zu können. Deshalb brach er statt
dessen mit Vinod einen Streit vom Zaun.
»Und du willst mir
vermutlich weismachen, daß Madhu eine zweite Pinky ist, habe ich recht?« fragte
Farrokh den Zwerg.
Das war ein wunder
Punkt zwischen den beiden. Da Vinod und Deepa im Great Blue Nile aufgetreten waren,
nahmen sie es Dr. Daruwalla übel, daß er die Artisten des Great Royal Circus bevorzugte.
Dort gab es eine gewisse Pinky, die ein richtiger Star war. Als man sie zum Zirkus
gebracht hatte, war sie erst drei oder vier Jahre alt gewesen. Pratap Singh und
seine Frau Sumi hatten sie ausgebildet. Mit sieben oder acht Jahren konnte Pinky
mit der Stirn auf der Spitze eines drei Meter hohen Bambusstabs balancieren. Diesen
Stab balancierte ein größeres Mädchen auf der Stirn, das auf den Schultern eines
dritten Mädchens stand – eine schier unmögliche Nummer, für die man ein Mädchen
mit einem Gleichgewichtssinn benötigte, wie es ihn nur einmal in einer Million gab.
Obwohl Deepa und Vinod nie im Great Royal Circus aufgetreten waren, wußten sie,
welche Zirkusse ein hohes Niveau hatten – zumindest ein höheres als der Great Blue
Nile. Trotzdem schleppte Deepa dem Doktor diese gestrandeten kleinen Huren aus Kamathipura
an und erklärte sie für zirkusgeeignet. Dabei waren sie bestenfalls für den Great
Blue Nile geeignet.
»Kann Madhu wenigstens
einen Kopfstand machen?« fragte Farrokh die Frau des Zwergs. »Kann sie auf Händen
gehen?«
Deepa meinte, das
Mädchen könne das lernen. Schließlich war sie selbst auch als Mädchen ohne Knochen,
als zukünftige Schlangenfrau, an den Great Blue Nile verkauft worden. Später war
sie Trapezkünstlerin geworden, eine Fliegerin.
»Aber du bist heruntergefallen«,
erinnerte der Doktor Deepa.
[501] »Sie fällt doch
nur ins Netz!« rief Vinod aus.
»Da ist aber nicht
immer ein Netz«, sagte Dr. Daruwalla. »Bist du vielleicht in einem Netz gelandet,
Vinod?« fragte er den Zwerg.
»Ich habe in anderer
Beziehung Glück«, entgegnete Vinod. »Madhu wird nicht mit Clowns arbeiten, auch
nicht mit Elefanten«, fügte er hinzu.
Aber Farrokh hatte
den Eindruck, daß Madhu ungeschickt war. Sie sah schon ungeschickt aus – von der
zweifelhaften Koordinationsfähigkeit des hinkenden Knoblauch-und-Zwiebel-Schneiders,
Madhus frischernanntem Bruder, ganz zu schweigen. Farrokh war überzeugt, daß der
elefantenfüßige Junge bald wieder einem Elefanten begegnen würde, der ihm auf die
Füße trat. Er konnte sich vorstellen, daß der Great Blue Nile es sogar fertigbrachte,
den zerquetschten Fuß des Jungen zur Schau zu stellen. Ganesh würde eine kleine
Attraktion am Rande werden – der Elefantenjunge, wie sie ihn nennen würden.
Und da hatte der
Missionar, nach einem knappen Tag in Bombay, zu Dr. Daruwalla gesagt: »Welche Gefahren
auch immer im Zirkus lauern mögen, der Zirkus ist allemal besser für diese Kinder
als ihre derzeitige Situation. Die Alternativen kennen wir doch.«
Vinod hatte dem
vermeintlichen Inspector Dhar
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