Zirkuskind
nehmen und wir das andere?«
»Ja«, antwortete
Dr. Daruwalla. Er bekam seine zitternden Beine nicht unter Kontrolle.
»Aber… na ja, ich
weiß, daß Sie das für albern halten werden… aber mir erschiene es klüger, die beiden
nicht zusammen schlafen zu lassen. Ich meine, nicht im selben Zimmer«, fügte der
Missionar hinzu. »Schließlich müssen wir die Disposition des Mädchens berücksichtigen,
über die wir freilich nur Vermutungen anstellen können.«
»Die was?« fragte
der Doktor. Es gelang ihm, ein zitterndes Bein unter Kontrolle zu bringen, das andere
jedoch nicht.
»Ihre sexuelle Erfahrung,
meine ich«, sagte Martin Mills. »Wir müssen davon ausgehen, daß sie einige… sexuelle
Kontakte gehabt hat. Ich will damit sagen, was ist, wenn Madhu versucht, Ganesh
zu verführen? Wissen Sie, was ich meine?«
Dr. Daruwalla wußte
sehr wohl, was Martin Mills meinte. »Das ist ein Argument«, war alles, was der Doktor
darauf sagte.
»Alsdann, was halten
Sie davon, wenn der Junge und ich ein Zimmer nehmen und Sie und Madhu das andere?
Wissen Sie, ich glaube nicht, daß der Pater Rektor es billigen würde, wenn jemand
in meiner Situation mit einem Mädchen im selben Zimmer übernachtet«, erläuterte
Martin. »Das könnte so aussehen, als würde es meinen Gelübden widersprechen.«
[734] »Ja… Ihren Gelübden«,
erwiderte Farrokh. Endlich hörte auch das zweite Bein zu zittern auf.
»Halten Sie mich
für völlig blöde?« fragte der Jesuit den Doktor. »Wahrscheinlich finden Sie es idiotisch
von mir, Madhu zu unterstellen, daß sie eine solche Neigung hat, nur weil das arme
Kind eine… weil sie das war, was sie eben war.« Aber Farrokh spürte, daß er noch
immer eine Erektion hatte, dabei hatte Madhu ihn nur ganz kurz berührt.
»Nein, ich halte
es für klug, daß Sie sich gewisse Sorgen wegen Madhus… Neigung machen«, antwortete
Dr. Daruwalla. Er sprach langsam, weil er sich an den bekannten Psalm zu erinnern
versuchte. »Wie geht er gleich wieder, der dreiundzwanzigste Psalm?« fragte er den
Scholastiker. »›Muß ich auch wandern in finsterer Schlucht…‹«
»›…Ich fürchte kein
Unheil…‹«, fuhr Martin Mills fort.
»Ja, das ist es.
›Ich fürchte kein Unheil‹«, wiederholte Farrokh.
Dr. Daruwalla nahm
an, daß das Flugzeug Maharashtra bereits verlassen hatte und über Gujarat hinwegflog.
Das Land lag flach und ausgetrocknet unter ihnen im Dunst des Spätnachmittags. Der
Himmel war so braun wie die Erde. Limo-Roulette oder Flucht aus Maharashtra – der Drehbuchautor konnte sich
nicht zwischen diesen beiden Titeln entscheiden. Er dachte: Es hängt davon ab, was
passiert – es hängt davon ab, wie die Geschichte endet.
[735] 22
Die Versuchung des Dr. Daruwalla
Auf der Straße nach Junagadh
Am Flughafen
von Rajkot wurde die Lautsprecheranlage getestet. Es war ein Test, der keinerlei
Dringlichkeit erkennen ließ, so als wären die Lautsprecher eigentlich nicht wichtig
– als würde ohnehin niemand glauben, daß ein Notfall eintreten könnte.
»Eins, zwei, drei,
vier, fünf«, sagte eine Stimme. »Fünf, vier, drei, zwei, eins.« Dann wiederholte
sie das Ganze. Vielleicht wurde gar nicht die Lautsprecheranlage getestet, dachte
Dr. Daruwalla, sondern nur, wie gut die betreffende Person zählen konnte.
Während der Doktor
und Martin Mills das Gepäck zusammensammelten, erschien der Pilot und händigte dem
Missionar sein Schweizer Armeemesser aus. Zunächst wurde Martin verlegen – er hatte
ganz vergessen, daß man ihn in Bombay gezwungen hatte, die Waffe abzugeben. Dann
schämte er sich, weil er den Piloten für einen Dieb gehalten hatte. Während dieser
peinlichen Transaktion bestellten und tranken Madhu und Ganesh jeweils zwei Gläser
Tee. Dr. Daruwalla blieb es überlassen, mit dem Teeverkäufer um den Preis zu feilschen.
»Wir werden auf
dem Weg nach Junagadh dauernd anhalten müssen, damit ihr pinkeln könnt«, sagte Farrokh
vorwurfsvoll. Dann warteten sie in Rajkot fast eine Stunde auf die Ankunft ihres
Chauffeurs. Während der ganzen Zeit wurde über die Lautsprecheranlage gezählt, von
eins bis fünf und wieder zurück. Ein unangenehmer Flughafen, aber wenigstens hatten
Madhu und Ganesh reichlich Zeit zum Pinkeln.
Ihr Chauffeur hieß
Ramu. Er war Requisiteur im Great Blue [736] Nile Circus in Maharashtra und machte
heute schon seine zweite Fahrt von Junagadh nach Rajkot. Er war am Morgen pünktlich
zur planmäßigen Ankunftszeit des Flugzeuges dagewesen.
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