Zirkuskind
Als er erfuhr, daß der Flug
Verspätung hatte, fuhr er zum Zirkus nach Junagadh zurück, nur weil er eben gern
Auto fuhr. Die einfache Fahrt dauerte fast drei Stunden, aber Ramu berichtete stolz,
daß er die Strecke normalerweise in knapp zwei Stunden schaffte. Bald wurde seinen
Fahrgästen klar, warum.
Ramu fuhr einen
zerbeulten Landrover, der über und über mit Dreck (oder dem getrockneten Blut unglücklicher
Fußgänger und Tiere) bespritzt war. Er war achtzehn bis zwanzig Jahre alt, schmächtig,
und trug eine ausgebeulte kurze Hose und ein verdrecktes T-Shirt. Besonders bemerkenswert
war, daß Ramu barfuß fuhr. Die gummierten Auflagen des Kupplungs- und des Bremspedals
waren abgewetzt – die glatten Metalloberflächen sahen rutschig aus –, und das zweifellos
überstrapazierte Gaspedal war durch ein Stück Holz ersetzt worden, das so morsch
aussah wie eine Dachschindel und von dem Ramu den rechten Fuß keine Sekunde wegnahm.
Er zog es vor, Kupplung und Bremse mit dem linken Fuß zu betätigen, obwohl dem zweiten Pedal wenig Aufmerksamkeit
zuteil wurde.
Im Zwielicht rasten
sie durch Rajkot. Sie kamen an einem Wasserbehälter vorbei, einer Frauenklinik,
einem Busbahnhof, einer Bank, einem Obstmarkt, einer Gandhi-Statue, einem Telegrafenamt,
einer Bücherei, einem Friedhof, dem HavmoreRestaurant und dem Hotel Intimate. Als
sie durch das Basarviertel brausten, konnte Dr. Daruwalla nicht länger hinsehen,
weil es hier so viele Kinder gab – und natürlich auch ältere Leute, die nicht so
schnell beiseite springen konnten wie die Kinder, ganz zu schweigen von den Ochsenkarren
und den Kamelwagen, den Kühen und Eseln und Ziegen, den Mopeds und Fahrrädern, den
Fahrradrikschas und den dreirädrigen Rikschas; und Autos und Lieferwagen und Busse
gab es natürlich auch noch. Farrokh war [737] sicher, daß er am Stadtrand, im Straßengraben,
einen toten Mann gesehen hatte – noch eine »Nichtperson«, wie Ganesh sagen würde –, aber bei dem Tempo, mit dem sie dahinrasten, blieb ihm keine Zeit, Martin Mills
auf das erstarrte Gesicht aufmerksam zu machen und sich von ihm bestätigen zu lassen,
daß es einem Toten gehörte.
Sobald sie die Stadt
hinter sich gelassen hatten, fuhr Ramu noch schneller. Er war ein Anhänger eines
liberalen Fahrstils, bei dem es keine Regeln für das Überholen gab. Auf der Gegenfahrbahn
wich er nur Fahrzeugen aus, die größer waren. Und seiner Meinung nach war der Landrover
größer als alle anderen Gefährte auf der Straße – mit Ausnahme von Bussen und einer
zahlenmäßig äußerst beschränkten Kategorie von Schwerlastkraftwagen. Dr. Daruwalla
war dankbar, daß Ganesh auf dem Beifahrersitz saß. Madhu hätte auch gern vorne gesessen,
aber der Doktor befürchtete, sie könnte den Fahrer ablenken – Verführung bei Tempo
hundert. Folglich saß das Mädchen mit dem Doktor und dem Missionar auf dem Rücksitz,
während der Elefantenjunge ununterbrochen auf Ramu einschwatzte.
Wahrscheinlich hatte
Ganesh erwartet, daß der Fahrer nur Gujarati sprach. Daß er in Ramu einen Landsmann
gefunden hatte, mit dem er Marathi und Hindi sprechen konnte, beflügelte den Betteljungen.
Obwohl es Farrokh schwerfiel, der Unterhaltung der beiden zu folgen, verstand er
zumindest genug, um mitzubekommen, daß Ganesh sämtliche denkbaren, mit dem Zirkus
verbundenen Tätigkeiten aufzuzählen versuchte, die ein Krüppel mit einem gesunden
Fuß ausführen konnte. Ramu seinerseits blockte eher ab; er redete lieber vom Autofahren,
während er seine gewaltsame Schalttechnik (anstelle des üblichen Bremsens) vorführte
und Ganesh nachdrücklich versicherte, zu einer solchen Meisterschaft bringe man
es nur mit einem intakten rechten Fuß.
Immerhin muß man
Ramu zugute halten, daß er Ganesh [738] nicht ansah, während er redete, sondern zum
Glück starr auf den Wahnsinn blickte, der sich auf der Straße abspielte. Bald würde
es dunkel werden; vielleicht konnte sich der Doktor dann eher entspannen, weil er
den Tod nicht mehr auf sich zurasen sah. Nach Einbruch der Dunkelheit würde es nur
noch die plötzliche Nähe einer plärrenden Hupe und die blendende Helle auf sie zufliegender
Scheinwerfer geben. Farrokh stellte sich das Knäuel von Leibern in dem sich überschlagenden
Landrover vor: ein Fuß hier, eine Hand dort, jemandes Hinterkopf, ein herumfuchtelnder
Ellbogen – und keiner wußte, wer wer war und wo sich der Boden befand oder der schwarze
Himmel (denn die Scheinwerfer wären mit Sicherheit
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