Zirkuskind
habe sie überwunden«, sagte Martin Mills.
»Letzten Endes habe ich gewonnen.«
»Und was haben Sie
gewonnen?« fragte Farrokh.
»Nicht die Freiheit
von der Begierde«, erklärte der künftige Priester. »Eher die Freiheit von der Angst
vor der Begierde. Jetzt kann ich ihr widerstehen.«
»Aber was ist mit
ihr?« fragte Dr. Daruwalla.
»Mit ihr?« wiederholte
Martin Mills.
»Ich meine, welche
Gefühle hat diese Frau für Sie gehegt?« fragte ihn der Doktor. »Hat sie überhaupt
gewußt, was Sie für sie empfinden?«
»Für ihn«, entgegnete
der Missionar. »Es war ein Mann, keine Frau. Überrascht Sie das?«
»Ja, das überrascht
mich«, log der Doktor. Im Grunde war er überrascht, wie wenig ihn das Geständnis
des Jesuiten [729] überraschte. Er war beunruhigt und zutiefst aufgewühlt, ohne zu
begreifen, warum.
Doch da setzte sich
das Flugzeug in Bewegung, und schon sein schwerfälliges Dahinrollen auf der Startbahn
reichte aus, um Madhu in Panik zu versetzen. Sie saß in derselben Reihe wie Dr.
Daruwalla und der Missionar, nur auf der anderen Gangseite, und jetzt wollte sie
herüberkommen und sich neben den Doktor setzen. Ganesh hatte es sich frohgemut auf
dem Fenstersitz bequem gemacht. Umständlich tauschten Martin Mills und Madhu die
Plätze; der Jesuit setzte sich neben den verzückt am Fenster klebenden Jungen, und
die Kindprostituierte glitt auf den Sitz am Gang neben Farrokh.
»Du brauchst keine
Angst zu haben«, sagte der Doktor zu ihr.
»Ich will nicht
zum Zirkus«, sagte das Mädchen. Sie schaute den Gang hinunter und weigerte sich,
aus dem Fenster zu sehen. Sie war nicht die einzige, für die alles neu war; offenbar
flog die Hälfte der Passagiere zum erstenmal. Eine Hand griff nach oben, um das
Luftventil einzustellen, und sogleich schossen weitere fünfunddreißig Hände in die
Höhe. Trotz der wiederholten Ankündigung, daß das Handgepäck unter den Sitzen zu
verstauen sei, bestanden die Passagiere darauf, ihre schweren Taschen auf die Ablage
zu türmen, die die Stewardess hartnäckig als Hutablage bezeichnete, obwohl sich
kaum Hüte an Bord befanden. Dafür – vielleicht wegen der langen Verzögerung – schwirrten
unzählige Fliegen in der Kabine herum, was die aufgeregten Passagiere jedoch nicht
weiter beeindruckte. Jemand erbrach sich bereits, dabei befanden sie sich noch am
Boden. Endlich startete das Flugzeug.
Der Elefantenjunge
bildete sich ein, er würde aus eigener Kraft fliegen. Seine Begeisterung und sein
Elan schienen das Flugzeug in die Lüfte zu heben. Der kleine Bettler wird auf einem
Löwen reiten, wenn man es ihm sagt, und er wird mit [730] einem Tiger ringen, dachte
Dr. Daruwalla. Ganz plötzlich hatte der Doktor Angst um den Jungen! Ganesh würde
in die Zirkuskuppel hinaufklettern – die ganzen fünfundzwanzig Meter. Seine Arme
und Hände waren, wahrscheinlich als Ausgleich für den unbrauchbaren Fuß, außergewöhnlich
kräftig. Welche Instinkte werden ihn schützen? fragte sich der Doktor, während er
spürte, wie Madhu in seinem Arm zitterte und stöhnte. Farrokh spürte ihr heftig
schlagendes Herz an seiner Brust.
»Wenn wir abstürzen,
verbrennen wir dann oder zerreißt es uns in kleine Stücke?« fragte ihn das Mädchen
mit den Lippen an seinem Hals.
»Wir werden nicht
abstürzen, Madhu«, beruhigte er sie.
»Das können Sie
nicht wissen«, entgegnete sie. »Im Zirkus könnte ich von einem wilden Tier aufgefressen
werden, oder ich könnte aus der Kuppel herunterfallen. Und was ist, wenn ich nicht
zur Artistin tauge oder wenn sie mich schlagen?«
»Hör mir zu«, sagte
Dr. Daruwalla, jetzt wieder ganz Vater. Er mußte an seine Töchter denken – an ihre
Alpträume, ihre Schrammen und blauen Flecken und ihre schlimmsten Schultage; an
ihre schrecklichen ersten Freunde, die schlicht hoffnungslos waren. Aber für das
weinende Mädchen in seinem Arm stand mehr auf dem Spiel. »Versuch die Sache mal
so zu sehen«, sagte der Doktor. »Du entkommst.« Aber mehr konnte er nicht sagen,
weil er nur wußte, welcher Situation sie entkam, nicht aber, was sie dafür eintauschte.
Aus den Fängen einer Art einer Todesart in die Fänge einer anderen… Hoffentlich
nicht, konnte der Doktor nur denken.
»Irgend etwas wird
mich erwischen«, entgegnete Madhu. Als Farrokh ihren heißen, flachen Atem an seinem
Hals spürte, wußte er auf einmal, warum Martin Mills’ Eingeständnis seiner homosexuellen
Begierde ihn so bedrückt hatte. Wenn Dhars Zwillingsbruder gegen seine
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