Zirkuskind
zerschmettert), und alle hätten
Glassplitter im Haar, so fein wie Sand. Sie würden das Benzin riechen, das ihre
Kleider allmählich durchtränkte. Und zuletzt würden sie den Feuerball sehen.
»Lenken Sie mich
ab«, sagte Dr. Daruwalla zu Martin Mills. »Reden Sie. Erzählen Sie, irgendwas.«
Der Jesuit, der seine Kindheit auf den Schnellstraßen von Los Angeles verbracht
hatte, schien sich in dem hin und her schwankenden Landrover wohl zu fühlen. Die
ausgebrannten Autowracks am Straßenrand interessierten ihn ebensowenig wie vereinzelte,
auf dem Dach liegende Autos, die noch schwelten – und für die blutigen Tierkadaver,
mit denen die Straße übersät war, interessierte er sich nur dann, wenn er sie nicht
identifizieren konnte.
»Was war denn das?
Haben Sie das gesehen?« fragte der Missionar, während er den Kopf herumriß.
»Ein toter Ochse«,
antwortete Dr. Daruwalla. »Bitte reden Sie mit mir, Martin.«
»Ich weiß, daß das
Ding tot war«, sagte Martin Mills. »Und was genau ist ein Ochse?«
»Ein kastrierter
Bulle, ein Ochse eben«, antwortete Farrokh.
»Da ist noch einer!«
rief der Scholastiker und drehte sich wieder um.
[739] »Nein, das war
eine Kuh«, sagte der Doktor.
»Dort hinten habe
ich ein Kamel gesehen«, bemerkte Martin. »Haben Sie es auch gesehen?«
»Ja, ich habe es
auch gesehen«, antwortete Farrokh. »Aber jetzt erzählen Sie mir eine Geschichte.
Es wird bald dunkel.«
»Wie schade, es
gibt soviel zu sehen!« meinte Martin Mills.
»Lenken Sie mich
um Himmels willen ab!« schrie Dr. Daruwalla. »Ich weiß, daß Sie gern reden, also
los, erzählen Sie irgendwas!«
»Na gut… was soll
ich Ihnen denn erzählen?« fragte der Missionar. Farrokh hätte ihm den Hals umdrehen
können.
Das Mädchen war
eingeschlafen. Sie hatten sie zwischen sich gesetzt, weil sie nicht wollten, daß
sie sich gegen eine der klapprigen hinteren Türen lehnte. So konnte sie sich nur
an sie beide lehnen. Im Schlaf wirkte Madhu so kraftlos und schlapp wie eine Lumpenpuppe.
Die beiden Männer mußten sie rechts und links stützen und an den Schultern festhalten,
damit sie nicht hin und her geschleudert wurde.
Ihr duftendes Haar
streifte Dr. Daruwallas Kehle über dem offenen Hemdkragen; es roch nach Gewürznelken.
Dann schwenkte der Landrover zur Seite, und Madhu plumpste auf den Jesuiten, der
sie nicht weiter beachtete. Aber Farrokh spürte ihre Hüfte an seiner. Als der Landrover
erneut zum Überholen ausscherte, bohrte sich Madhus Schulter in seine Rippen. Ihre
schlaffe Hand strich über seinen Oberschenkel. Farrokh spürte Madhus Atem und hielt
die Luft an. Ihm war ausgesprochen unwohl bei dem Gedanken, die Nacht mit ihr im
selben Zimmer verbringen zu müssen. Farrokh wollte nicht nur von Ramus rücksichtsloser
Fahrweise abgelenkt werden.
»Erzählen Sie mir
was von Ihrer Mutter«, sagte Dr. Daruwalla zu Martin Mills. »Wie geht’s ihr?« Selbst
im Dämmerlicht konnte der Doktor sehen, wie sich der Nacken des Missionars verspannte.
Er kniff die Augen zusammen. »Und Ihrem Vater? Wie [740] geht es Danny?« fügte der
Doktor hinzu, aber da war das Unglück bereits geschehen. Martin hatte den zweiten
Teil der Frage gar nicht mehr gehört. Er durchforstete in Gedanken die Vergangenheit.
Draußen flog die Landschaft mit den gräßlich zugerichteten Tierkadavern vorbei,
aber der Jesuit nahm sie nicht mehr wahr.
»Also gut, wenn
Sie unbedingt wollen, werde ich Ihnen eine kleine Geschichte von meiner Mutter erzählen«,
sagte Martin Mills. Irgendwie wußte Dr. Daruwalla, daß es keine »kleine« Geschichte
sein würde. Der Missionar war kein Minimalist; er erging sich gern in ausführlichen
Schilderungen. Tatsächlich ließ Martin kein Detail aus; er erzählte Farrokh restlos
alles, woran er sich erinnern konnte. Er erwähnte die erlesene Reinheit von Arif
Komas Gesichtshaut, die unterschiedlichen Gerüche beim Masturbieren – nicht nur
den von Arif, sondern auch den, der damals den Fingern der U.C.L.A.-Babysitterin
anhaftete .
So brausten sie
durch die in Dunkel gehüllten ländlichen Gegenden und schwach erleuchteten Städte,
verfolgt vom Gestank der Kochstellen und Exkremente – und dem Gackern der Hühner,
dem Bellen der Hunde und den wüsten Drohungen kreischender Fußgänger, die um ein
Haar überfahren worden wären. Ramu entschuldigte sich, daß das Fenster auf der Fahrerseite
fehlte; die hereinfegende Nachtluft wurde zunehmend kühler, und die Fahrgäste auf
dem Rücksitz bekamen
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