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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Dhars Schicksal
nach. Einst ein Halbgott, jetzt ein todgeweihter Patient. Zum [726]  erstenmal, seit
er diesem Geck mit der Perücke heißen Tee auf den Kopf gegossen hatte, hatte Mr.
Sethna den Eindruck, daß die Welt gut und gerecht war.
    Während Martin Mills
in der Herrentoilette herumexperimentierte, kam Dr. Daruwalla im Kartenzimmer dahinter,
warum es den Kindern so schwerfiel, »Crazy Eight« oder irgendein anderes Kartenspiel
zu begreifen. Niemand hatte ihnen je die Zahlen beigebracht. Sie konnten nicht nur
nicht lesen, sie konnten auch nicht zählen. Der Doktor hielt seine Finger und gleichzeitig
die entsprechende Karte hoch – drei Finger bei der Herz Drei –, als Martin Mills
von der Herrentoilette zurückkehrte. Das Minzblatt hing nach wie vor zwischen seinen
Schneidezähnen.
    Fürchte kein Unheil!
    Ihr Flugzeug
nach Rajkot startete um 17 Uhr 10, knapp acht Stunden nach der planmäßigen Abflugzeit.
Es war eine wenig Vertrauen erweckende Boeing 737. Die verblichene Aufschrift auf
dem Rumpf
    VIERZIG JAHRE FREIHEIT
    war kaum
lesbar. Das Flugzeug war 1987 in Indien in Betrieb genommen worden, rechnete Dr.
Daruwalla nach. Der Himmel mochte wissen, wo es zuvor herumgeflogen war.
    Zusätzlich verzögert
wurde der Abflug dadurch, daß die kleinlichen Beamten es für nötig hielten, Martin
Mills’ Schweizer Armeemesser – ein potentielles Terroristenwerkzeug – in Verwahrung
zu nehmen. Der Pilot würde die »Waffe« einstecken und sie Martin in Rajkot aushändigen.
    »Na ja, wahrscheinlich
sehe ich es nie wieder«, meinte der [727]  Missionar; er sagte es nicht gleichmütig,
sondern eher wie ein Märtyrer.
    Farrokh nahm ihn
auf den Arm, ohne auch nur eine Sekunde zu verlieren. »Das kann Ihnen doch nichts
ausmachen«, erklärte er. »Sie haben doch ein Armutsgelübde abgelegt, oder?«
    »Ich weiß, was Sie
von meinen Gelübden halten«, entgegnete Martin. »Sie glauben, nur weil ich mich
für ein Leben in Armut entschieden habe, darf ich nicht an materiellen Dingen hängen.
An diesem Hemd zum Beispiel, an meinem Taschenmesser, meinen Büchern. Und Sie glauben,
weil ich Keuschheit gelobt habe, muß ich frei von sexueller Begierde sein. Also,
ich will Ihnen mal was sagen: Ich bin die endgültige Verpflichtung, Priester zu
werden, nicht nur deshalb noch nicht eingegangen, weil ich eben an meinen paar Sachen
hänge, sondern auch, weil ich mir eingebildet habe, ich sei verliebt. Zehn Jahre
lang war ich verknallt. Ich habe nicht nur unter sexueller Begierde gelitten, sondern
es war geradezu eine Obsession. Die betreffende Person ging mir absolut nicht mehr
aus dem Kopf. Überrascht Sie das?«
    »Ja, das tut es«,
gab Dr. Daruwalla kleinlaut zu. Außerdem befürchtete er, daß dieser Wahnsinnige
im Beisein der Kinder womöglich noch heiklere Bekenntnisse ablegte, aber Ganesh
und Madhu waren so fasziniert von den Startvorbereitungen, daß sie von dem Geständnis
des Jesuiten überhaupt keine Notiz nahmen.
    »Ich habe weiterhin
an dieser miserablen Schule unterrichtet – die Schüler waren lauter Straffällige,
keine jungen Leute, die wirklich etwas lernen wollten –, nur, weil ich mich auf
die Probe stellen mußte«, erzählte Martin Mills Dr. Daruwalla. »Weil sich das Objekt
meiner Begierde dort befand. Wäre ich weggegangen, wäre ich fortgelaufen, hätte
ich nie erfahren, ob ich die Kraft habe, einer solchen Versuchung zu widerstehen.
Und deshalb bin ich geblieben. Ich habe mich gezwungen, mich möglichst nahe bei
dieser Person aufzuhalten, nur um festzustellen, ob ich die [728]  Standfestigkeit aufbringe,
einer solchen Anziehungskraft zu widerstehen. Aber ich weiß, wie Sie über priesterliche
Selbstverleugnung denken. Sie denken, daß Priester Menschen sind, die diese gewöhnlichen
Begierden einfach nicht verspüren oder zumindest weniger stark als andere Leute.«
    »Ich urteile nicht
über Sie!« sagte Dr. Daruwalla.
    »Doch, das tun Sie«,
antwortete Martin. »Sie glauben, daß Sie alles über mich wissen.«
    »Diese Person, in
die Sie verliebt waren…«, begann der Doktor.
    »…hat auch an der
Schule unterrichtet«, beendete der Missionar den Satz. »Das Verlangen hat mich schier
zugrunde gerichtet. Aber ich habe das Objekt meiner Begierde weiterhin so dicht
vor Augen gehabt.« Bei diesen Worten hob der Glaubenseiferer die Hand vors Gesicht.
»Irgendwann hat die Anziehungskraft nachgelassen.«
    »Nachgelassen?«
wiederholte Farrokh.
    »Entweder hat die
Anziehungskraft nachgelassen, oder ich

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