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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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jede Menge Insekten ab. Irgendwann knallte etwas von der Größe
einer Hummel an Martins Stirn. Es mußte ihn gestochen haben und lag dann fünf Minuten
oder länger summend und surrend auf dem Boden, bevor es verendete – was immer es
war. Aber die Geschichte des Missionars war nicht mehr abzuwenden. Nichts konnte
ihn jetzt noch aufhalten.
    Er brauchte den
ganzen Weg bis Junagadh, um sie zu Ende zu erzählen. Als sie in die hell erleuchtete
Stadt kamen, wimmelte es auf den Straßen von Menschen. Zwei Menschenströme schoben [741]  sich gegeneinander. Ein Lautsprecher auf einem geparkten Lieferwagen spielte
Zirkusmusik. Der eine Menschenstrom kam aus der Spätnachmittagsvorstellung, der
andere drängte zur Abendvorstellung, die demnächst beginnen sollte.
    Ich sollte dem armen
Kerl alles sagen, dachte Dr. Daruwalla. Daß er einen Zwillingsbruder hat, daß seine
Mutter schon immer ein Flittchen war, daß wahrscheinlich Neville Eden sein leiblicher
Vater war. Danny war zu dumm, um als Vater in Frage zu kommen, denn John D. und
Martin Mills waren beide intelligent. Neville war auch intelligent gewesen, obwohl
Farrokh ihn nie gemocht hatte. Aber Martins Geschichte hatte Farrokh die Sprache
verschlagen. Außerdem fand er, daß John D. entscheiden sollte, ob Martin das erfahren
sollte oder nicht. Und obwohl Dr. Daruwalla Vera gern auf beinahe jede erdenkliche
Art und Weise bestraft hätte, bestärkte ihn ein Satz, den Martin über Danny sagte,
darin, den Mund zu halten: »Ich liebe meinen Vater. Ich wünschte nur, er würde mir
nicht leid tun.«
    Der Rest der Geschichte
drehte sich ausschließlich um Vera; über Danny verlor Martin kein Wort mehr. Sicher
hätte es ihm nicht gut getan, ausgerechnet jetzt zu erfahren, daß sein mutmaßlicher
Vater ein betrügerischer, bisexueller Scheißkerl namens Neville Eden war, zumal
Martin Danny danach nicht weniger bemitleidet hätte.
    Außerdem waren sie
fast beim Zirkus angelangt. Der elefantenfüßige Junge war so aufgeregt, daß er auf
dem Beifahrersitz kniete und der Menge aus dem Fenster zuwinkte. Die Zirkusmusik,
die ihnen aus dem Lautsprecher entgegendröhnte, hatte Madhu aufgeweckt.
    »Hier ist dein neues
Leben«, sagte Dr. Daruwalla zu der Kindprostituierten. »Wach auf und sieh es dir
an.«
    [742]  Ein rassistischer Schimpanse
    Obwohl
Ramu überhaupt nicht mehr zu hupen aufhörte, kam der Landrover in der Menschenmenge
nur langsam vorwärts. Mehrere kleine Jungen hängten sich an die Türgriffe und die
hintere Stoßstange und ließen sich mitziehen. Alle Leute starrten auf den Rücksitz.
Doch Madhu hatte keinen Grund, ängstlich zu sein, denn die Menge starrte nicht sie
an, sondern Martin Mills. Die Leute hier waren nicht an den Anblick von Weißen gewöhnt,
da Junagadh keine Touristenstadt war; und die Haut des Missionars wirkte im hellen
Licht der Straßenlaternen totenbleich. Da sie sich notgedrungen so langsam vorantasten
mußten, wurde es heiß im Auto, doch sobald Martin sein Fenster herunterkurbelte,
streckten die Leute ihre Arme in den Landrover, nur um ihn zu berühren.
    Weit vor ihnen führte
ein Zwergclown auf Stelzen die Menschenmenge an. Am Eingang zum Zirkus war die Straße
noch mehr verstopft, weil es noch zu früh war, um die Besucher einzulassen. Der
Landrover mußte sich zentimeterweise durch das streng bewachte Tor schieben. Sobald
sie sich innerhalb der Umzäunung befanden, registrierte Dr. Daruwalla voller Dankbarkeit
das vertraute Gefühl: Der Zirkus war wie ein Kloster, ein geschützter Ort; er war
eine Oase inmitten des Chaos von Junagadh, ähnlich wie St. Ignatius, das sich im
Chaos von Bombay wie eine Festung behauptete. Hier würden die Kinder in Sicherheit
sein, vorausgesetzt, sie gaben diesem Ort eine Chance, und vorausgesetzt, der Zirkus
gab ihnen eine Chance.
    Aber das erste Omen
verhieß wenig Gastfreundschaft: Deepa kam ihnen nicht entgegen, um sie zu begrüßen.
Wie sich herausstellte, waren die Frau und der Sohn des Zwergs krank und konnten
ihr Zelt nicht verlassen. Zudem spürte Dr. Daruwalla fast auf Anhieb, wie ungünstig
der Great Blue Nile im Vergleich zum Great Royal abschnitt. Hier gab es keinen Zirkusbesitzer [743]  mit dem Charme und der Würde eines Pratap Walawalkar. Der Besitzer des Great
Blue Nile war nicht einmal anwesend. Kein Abendessen erwartete sie in seinem Zelt,
das sie überhaupt nicht zu Gesicht bekamen. Der Zirkusdirektor war ein Bengale namens
Das. In seinem Zelt gab es auch nichts zu essen, und die

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