Zirkuskind
sagte der Doktor.
Sie blieben auf
dem Balkon, bis das Arabische Meer die Farbe einer überreifen Kirsche angenommen
hatte, fast schon schwarz. Julia mußte den Inhalt von John D.s Taschen von der gläsernen
Tischplatte wegräumen, damit sie dort essen konnten. Diese Gewohnheit hatte John
D. von Kindheit an beibehalten. Sobald er das Haus oder die Wohnung der Daruwallas
betrat, legte er den Mantel ab, zog seine Schuhe oder Sandalen aus und leerte den
Inhalt seiner Taschen auf den nächstbesten Tisch. Das war nicht nur eine Geste,
die dazu beitrug, daß er sich wie zu Hause fühlte, denn ursprünglich waren die Töchter
der Daruwallas dafür verantwortlich. Solange sie bei ihren Eltern wohnten, taten
sie nichts lieber, als mit John D. zu ringen. Er lag dann rücklings auf dem Teppich
oder auf dem blanken Boden, manchmal auch auf einer Couch, und die kleinen Mädchen
fielen über ihn her; er tat ihnen nie weh, sondern wehrte sie nur ab. Und deshalb
beklagten sich Farrokh und Julia auch nie, daß sein Tascheninhalt in jedem Haus
und jeder Wohnung, die sie irgendwann bewohnten, stets irgendwo herumlag, obwohl
keine Kinder mehr da waren, die sich mit John D. balgten. Schlüssel, eine Brieftasche,
manchmal ein Paß… und an diesem Abend lag auf dem Glastisch in der Wohnung der Daruwallas
am Marine Drive auch ein Flugticket.
»Du fliegst also
am Donnerstag?« fragte ihn Julia.
»Donnerstag!« rief Dr. Daruwalla. »Das ist ja übermorgen!«
»Ich muß schon am
Mittwoch abend zum Flugplatz, der Flug geht nämlich in aller Herrgottsfrühe«, sagte
John D.
»Das ist ja morgen
abend!« rief Farrokh.
[896] Er nahm Julia
Dhars Brieftasche, die Schlüssel und das Flugticket ab und legte alles auf die Anrichte.
»Nicht dahin«, sagte
Julia, die das Abendessen dort servieren wollte. Also trug Dr. Daruwalla John D.s
Tascheninhalt in den Flur und deponierte ihn auf einem niedrigen Tisch neben der
Wohnungstür. Auf diese Weise, dachte der Doktor, würde John D. seine Sachen auf
alle Fälle sehen und sie beim Abschied nicht vergessen.
»Warum sollte ich
länger dableiben«, fragte John D. Julia. »Ihr bleibt doch auch nicht viel länger,
oder?«
Aber Dr. Daruwalla
hielt sich noch im Flur auf und sah sich Dhars Flugticket genauer an. Swissair,
nonstop nach Zürich. Flug 197, Abflug Donnerstag, 1 Uhr 45 nachts. Erste Klasse,
Platz 4B. Dhar nahm immer einen Sitzplatz am Gang, weil er gern Bier trank. Bei
einem neunstündigen Flug mußte er dementsprechend oft aufstehen, um zu pinkeln,
und wollte dabei nicht ständig über andere Leute hinwegklettern müssen.
Blitzschnell – noch
bevor er wieder zu John D. und Julia zurückkehrte und sich zum Essen an den Tisch
setzte – hatte Dr. Daruwalla einen Entschluß gefaßt. Immerhin war er, wie Dhar ihm
bestätigt hatte, der Autor. Und ein Autor konnte Dinge geschehen lassen. Die beiden
waren Zwillinge. Sie mußten sich ja nicht mögen, aber einsam brauchten sie auch
nicht zu sein.
Farrokh saß glücklich
bei seinem Supper (wie er es beharrlich nannte) und lächelte John D. liebevoll an.
Dich werd ich lehren, mir doppeldeutige Antworten zu geben! dachte der Doktor. Laut
sagte er: »Du hast recht, warum solltest du noch länger hierbleiben! Du kannst ebensogut
auf der Stelle abreisen.«
Julia und John D.
sahen ihn an, als sei er nicht richtig im Kopf. »Na ja, ich meine, natürlich wirst
du mir fehlen, aber wir sehen uns sicher bald wieder, irgendwo. In Kanada oder in
der Schweiz. Ich freue mich schon darauf, mehr Zeit in den Bergen zu verbringen.«
[897] »Wirklich? Du?«
fragte Julia verblüfft. Farrokh konnte Berge nicht ausstehen. Inspector Dhar starrte
ihn nur an.
»Ja, das ist sehr
gesund«, erwiderte der Doktor. »Die gute Swissair«, bemerkte er geistesabwesend;
eigentlich hatte er »Schweizer Luft« sagen wollen, aber er dachte an die Fluggesellschaft
und daran, daß er Martin Mills ein Erster-Klasse-Ticket nach Zürich für den Swissair-Flug
197 am frühen Donnerstag morgen besorgen würde. Platz 4 A . Farrokh hoffte, der ehemalige Missionar
würde den Fensterplatz ebenso zu schätzen wissen wie seinen interessanten Reisegefährten.
Das Abendessen verlief
fröhlich und harmonisch. Normalerweise war Dr. Daruwalla mißmutig, wenn er wußte,
daß er sich von John D. trennen mußte. Aber an diesem Abend fühlte er sich geradezu
euphorisch.
»John D. hatte eine
phantastische Idee… wegen dieser Wohnung«, erzählte Farrokh seiner Frau. Julia war
von dem Vorschlag sehr
Weitere Kostenlose Bücher