Zirkuskind
aber der Doktor war zuversichtlich, daß sie ihr
Schweigen nicht ganze neun Stunden lang aufrechterhalten konnten. Obwohl der Schauspieler
mehr und interessantere Einzelheiten wußte, hätte Farrokh gewettet, daß der ehemalige
Missionar zu plappern anfangen würde. Martin Mills würde die ganze Nacht hindurch
plappern, wenn [900] John D. nicht irgendwann den Mund aufmachte, um sich seiner Haut
zu wehren.
Julia beobachtete,
wie ihr Mann im Schlaf die Hände auf seinen Bauch legte. Dr. Daruwalla vergewisserte
sich, daß der Sitzgurt richtig geschlossen war. Dann lehnte er sich zurück, um den
langen Flug zu genießen.
Machen Sie einfach die Augen zu!
Der nächste
Tag war ein Mittwoch. Dr. Daruwalla sah sich den Sonnenuntergang von seinem Balkon
aus an, diesmal zusammen mit Dhars Zwillingsbruder. Martin Mills hatte eine Menge
Fragen zu seinem Flugticket. Farrokh wich ihnen mit dem Geschick eines Autors aus,
der sich bereits mehrere mögliche Dialoge ausgedacht hatte.
»Ich fliege nach
Zürich? Das ist aber seltsam… ich bin nicht auf diesem Weg hergekommen«, bemerkte
der ehemalige Missionar.
»Ich habe Beziehungen
zur Swissair. Da ich häufig fliege, bekomme ich besondere Konditionen«, erklärte
ihm Farrokh.
»Ach so, verstehe.
Also, ich bin Ihnen sehr dankbar. Wie ich gehört habe, soll das eine phantastische
Fluglinie sein«, sagte Martin. »Das sind ja Tickets für die erste Klasse!« rief
er plötzlich. »Die erste Klasse kann ich Ihnen aber nicht zurückzahlen!«
»Sie dürfen gar
nichts zurückzahlen«, sagte der Doktor. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich Beziehungen
habe… ich bekomme besondere Konditionen für die erste Klasse. Sie dürfen gar nichts
zurückzahlen, weil mich die Flugtickets so gut wie nichts kosten.«
»Ach so, verstehe.
Ich bin noch nie erster Klasse geflogen«, sagte der frühere Scholastiker. Farrokh
merkte deutlich, daß ihm das Ticket für den Anschlußflug von Zürich nach New [901] York
Rätsel aufgab. Er würde um sechs Uhr früh in Zürich eintreffen, und das Flugzeug
nach New York ging erst um ein Uhr mittags – eine lange Zwischenlandung, dachte
der ehemalige Jesuit. Und noch eine Besonderheit hatte das Ticket nach New York.
»Das ist ein undatiertes
Ticket nach New York«, sagte Farrokh ganz nebenbei. »Es gilt für den täglichen Nonstopflug.
Sie müssen nicht am selben Tag, an dem Sie in der Schweiz ankommen, nach New York
weiterfliegen, sondern haben ein gültiges Ticket für jeden beliebigen Tag, an dem
ein Platz in der ersten Klasse frei ist. Ich dachte mir, vielleicht hätten Sie ja
Lust, ein paar Tage in Zürich zu verbringen, etwa das Wochenende. Es wäre sicher
besser, wenn Sie ausgeruht in New York ankommen.«
»Also, das ist wirklich
sehr freundlich von Ihnen. Aber ich weiß nicht recht, was ich in Zürich anfangen
sollte…«, sagte Martin. Dann entdeckte er den Hotelgutschein; er steckte bei den
Flugtickets.
»Drei Nächte im
Hotel zum Storchen, ein sehr schönes Hotel«, erklärte Farrokh. »Ein Zimmer mit Blick
auf die Limmat. Sie können in der Altstadt herumspazieren oder an den See gehen.
Waren Sie schon mal in Europa?«
»Nein, war ich nicht«,
sagte Martin Mills. Er starrte noch immer auf den Hotelgutschein; die Mahlzeiten
waren darin eingeschlossen.
»Alsdann«, sagte
Dr. Daruwalla. Nachdem der Kommissar diesen Ausdruck als so bedeutungsvoll empfunden
hatte, wollte der Doktor es auch einmal damit versuchen; anscheinend funktionierte
er auch bei Martin Mills. Während des ganzen Abendessens war der aus dem Orden ausgetretene
Jesuit überhaupt nicht streitsüchtig, sondern wirkte regelrecht zahm. Julia machte
sich Sorgen, es könnte vielleicht am Essen liegen, oder Dhars unglücklicher Zwillingsbruder
könnte womöglich krank [902] sein, aber Dr. Daruwalla kannte das Gefühl des Versagens;
er wußte, was den ehemaligen Missionar quälte.
John D. irrte sich.
Sein Zwillingsbruder war kein Drückeberger. Martin Mills hatte das angestrebte Priestertum
zwar aufgegeben, aber zu einem Zeitpunkt, als das Ziel bereits in Sicht war und
er es ohne weiteres hätte erreichen können. Er war nicht daran gescheitert, Priester
zu werden, sondern hatte Angst bekommen, das Amt nicht so ausfüllen zu können, wie
er sich das vorstellte. Seine Entscheidung für einen Rückzieher, die nach außen
hin so launenhaft und unvermittelt gewirkt hatte, kam nicht aus heiterem Himmel.
Wahrscheinlich hatte Martin das Gefühl, daß er sein Leben lang Rückzieher
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