Zirkuskind
seine Fähigkeiten als Lehrer waren für die St. Ignatius Schule
eine willkommene Bereicherung gewesen.
Frater Gabriel,
der Martin recht gern mochte und ihn bewunderte, mußte an die blutigen Socken denken,
die der Scholastiker in den Händen ausgedrückt hatte – und natürlich an das »Ich
nehme den Truthahn«-Gebet. Der betagte Spanier nahm, wie häufig, Zuflucht zu seiner
Ikonensammlung. Diese Bilder des Leidens, die die russischen und byzantinischen
Ikonen Frater Gabriel boten, waren in ihrer Vielfalt altbekannt und schon darum
tröstlich.
Die Enthauptung
Johannes’ des Täufers, das Abendmahl, die Kreuzabnahme Christi – selbst diese schrecklichen
Augenblicke waren dem Anblick von Martin Mills vorzuziehen, der dem alten Frater
Gabriel in verhängnisvoller Weise im Gedächtnis haften geblieben war: der verrückte
Kalifornier mit seinen blutigen, verrutschten Verbänden, der aussah wie eine aus
zahlreichen umgebrachten Missionaren zusammengefügte Gestalt. Vielleicht war es
wirklich Gottes Wille, daß Martin Mills nach New York gerufen wurde.
»Was wollen Sie
tun?« schrie Dr. Daruwalla, denn in der Zeit, die er gebraucht hatte, um mit Vinod
und Detective Patel [891] zu reden, hatte Martin den Jungen der Oberstufe von St. Ignatius
nicht nur eine katholische Interpretation des Romans Das Herz aller Dinge geliefert, sondern zudem Gottes
Willen »interpretiert«. Martin zufolge wollte Gott nicht, daß er Priester wurde
– Gott wollte, daß er nach New York fuhr!
»Mal sehen, ob ich
Ihnen folgen kann«, sagte Farrokh. »Sie sind zu dem Schluß gelangt, daß Madhus Tragödie
Ihr ganz persönlicher Mißerfolg ist. Ich kenne das Gefühl, ich bin genauso ein Narr
wie Sie. Und darüber hinaus zweifeln Sie an der Kraft Ihrer Überzeugung, Priester
zu werden, weil Sie sich noch immer von Ihrer Mutter manipulieren lassen, die das
Manipulieren anderer Menschen zu ihrem Beruf gemacht hat. Sie fliegen also nach
New York, nur um Veras Macht über Sie unter Beweis zu stellen… und natürlich auch
Danny zuliebe, obwohl Danny nie erfahren wird, ob Sie zu seinem Begräbnis gekommen
sind oder nicht. Oder glauben Sie, daß er es erfährt?«
»Das ist eine sehr
vereinfachte Darstellung«, sagte Martin. »Mag sein, daß mir die nötige Willenskraft
fehlt, aber meinen Glauben habe ich nicht vollständig eingebüßt.«
»Ihre Mutter ist
ein Miststück«, erklärte ihm Dr. Daruwalla.
»Das ist eine sehr
vereinfachte Darstellung«, wiederholte Martin. »Außerdem weiß ich das längst.«
Der Doktor geriet
in arge Versuchung. Sag es ihm! dachte er. Sag es ihm jetzt!
»Natürlich gebe
ich Ihnen das Geld zurück. Ich betrachte das Flugticket nicht als Geschenk«, erläuterte
Martin Mills. »Schließlich ist mein Armutsgelübde nicht länger wirksam. Ich habe
die akademischen Voraussetzungen, um zu unterrichten. Damit werde ich zwar nicht
viel Geld verdienen, aber bestimmt genug, um Ihnen alles zurückzuzahlen… wenn Sie
mir nur ein bißchen Zeit lassen.«
»Es geht mir nicht
um das Geld! Ich kann es mir leisten, Ihnen ein Flugticket zu schenken… ich kann
es mir sogar [892] leisten, Ihnen zwanzig Flugtickets zu schenken!« rief Farrokh. »Aber
Sie geben Ihr Ziel auf, und das ist so verrückt an Ihnen. Sie geben einfach auf,
noch dazu aus so blödsinnigen Gründen!«
»Es liegt nicht
an den Gründen, es liegt an meinen Zweifeln«, sagte Martin. »Sehen Sie mich doch
an. Ich bin neununddreißig. Wenn ich Priester werden würde, müßte ich längst einer
sein. Jemand, der mit neununddreißig noch immer versucht, ›sich selbst zu finden‹,
ist nicht sehr zuverlässig.«
Du nimmst mir die
Worte aus dem Mund! dachte Dr. Daruwalla, aber laut sagte er nur: »Machen Sie sich
keine Sorgen wegen des Tickets. Ich besorge Ihnen eines.« Es war ihm arg, diesen
Narren so am Boden zerstört zu sehen; und Martin war ein Narr, allerdings ein idealistischer.
Sein närrischer Idealismus war Dr. Daruwalla ans Herz gewachsen. Und Martin war
aufrichtig – im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder! Paradoxerweise hatte der Doktor
das Gefühl, von Martin Mills – in einer knappen Woche – mehr über John D. erfahren
zu haben als in neununddreißig Jahren von diesem selbst.
Dr. Daruwalla fragte
sich, ob John D.s Distanziertheit, sein Nichtpräsentsein – sein ikonenhafter, undurchsichtiger
Charakter – nicht vielleicht jenen Teil seiner Persönlichkeit ausmachte, der nicht
angeboren war, sondern sich erst entwickelt hatte, als er
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