Zirkuskind
machte.
Da die Sicherheitskontrollen
ziemlich lange dauerten, mußte Martin Mills zwei bis drei Stunden vor Abflug in
Sahar sein. Farrokh hielt es für riskant, ihn ein Taxi nehmen zu lassen, das nicht
von Vinod gefahren wurde; und Vinod war nicht verfügbar, weil er Dhar zum Flugplatz
brachte. Dr. Daruwalla bestellte ein angebliches Luxustaxi aus dem Wagenpark von
Vinods Blue Nile, Ltd. Auf dem Weg nach Sahar wurde dem Doktor zum erstenmal klar,
wie sehr er Dhars Zwillingsbruder vermissen würde.
»Allmählich gewöhne
ich mich daran«, sagte Martin. Sie fuhren gerade an einem toten Hund vorbei, der
auf der Straße lag, so daß Farrokh glaubte, Martins Bemerkung würde sich auf die
zunehmende Vertrautheit mit überrollten Tieren beziehen. Doch Martin führte aus,
daß er sich allmählich daran gewöhne, Orten den Rücken zu kehren, wo er ein bißchen
in Ungnade gefallen sei. »Also, es handelt sich nie um etwas Skandalöses… ich werde
nie mit Schimpf und Schande aus der Stadt gejagt«, fuhr er fort. »Irgendwie stehle
ich mich davon. Vermutlich bin ich für die Leute, die ihr Vertrauen in mich gesetzt
haben, nicht mehr als eine vorübergehende Peinlichkeit. So empfinde ich mich im
Grunde genommen selbst. Es ist nie eine [903] niederschmetternde Enttäuschung oder
ein schrecklicher Verlust, sondern eher eine flüchtige Schande.«
Ich werde diesen
Knallkopf vermissen, dachte Dr. Daruwalla, aber laut sagte er: »Tun Sie mir einen
Gefallen… machen Sie einfach die Augen zu.«
»Liegt wieder was
Totes auf der Straße?« fragte Martin.
»Wahrscheinlich«,
antwortete der Doktor. »Aber das ist nicht der Grund. Machen Sie einfach die Augen
zu. Sind sie zu?«
»Ja, meine Augen
sind zu«, sagte der ehemalige Scholastiker. »Was haben Sie denn vor?« fragte er
nervös.
»Entspannen Sie
sich einfach«, sagte Farrokh. »Wir spielen jetzt ein Spiel.«
»Ich mag keine Spiele!«
rief Martin. Er riß die Augen auf und sah sich gehetzt um.
»Machen Sie die
Augen zu!« schrie Dr. Daruwalla ihn an. Obwohl sein Gehorsamsgelübde hinter ihm
lag, gehorchte Martin. »Ich möchte, daß Sie sich den Parkplatz mit der Christusstatue
vorstellen«, sagte der Doktor. »Können Sie sie sehen?«
»Ja, natürlich«,
antwortete Martin Mills.
»Ist Christus noch
immer da, auf dem Parkplatz?« fragte Farrokh. Der Blödmann machte die Augen auf.
»Na ja, ich weiß
nicht recht. Der Parkplatz ist ständig vergrößert worden«, sagte Martin. »Es standen
immer eine Menge Baumaschinen und Baumaterialien herum. Vielleicht haben sie diesen
Teil des Parkplatzes aufgerissen… womöglich mußten sie die Statue entfernen…«
»Das meine ich nicht!
Machen Sie die Augen zu!« befahl Dr. Daruwalla. »Ich meine, können Sie in Gedanken
die verdammte Statue noch immer sehen? Jesus Christus auf dem dunklen Parkplatz
– können Sie ihn immer noch sehen?«
»Na ja, natürlich…
ja«, gab Martin zu. Er hielt die Augen fest geschlossen, als hätte er Schmerzen;
sein Mund war auch zu, die Nase leicht gerümpft. Sie fuhren an einem eingezäunten [904] Slum vorbei, das nur von Abfallfeuern erleuchtet wurde, aber der Gestank menschlicher
Exkremente überlagerte den Geruch des verbrennenden Mülls. »Ist das alles?« fragte
Martin mit geschlossenen Augen.
»Genügt das nicht?«
fragte ihn der Doktor. «Machen Sie um Himmels willen wieder die Augen auf!«
Martin machte sie
auf. »War das alles? War das das ganze Spiel?« wollte er wissen.
»Sie haben Jesus
Christus doch gesehen, oder? Was wollen Sie denn noch?« fragte Farrokh. »Sie müssen
sich klarmachen, daß es möglich ist, ein guter Christ zu sein, wie die Christen
das immer nennen, ohne gleichzeitig katholischer Priester zu sein.«
»Ach so, darauf
wollen Sie hinaus?« sagte Martin Mills. »Aber sicher, das ist mir schon klar!«
»Ich kann nicht
glauben, daß Sie mir fehlen werden, aber so ist es«, sagte Dr. Daruwalla.
»Sie werden mir
bestimmt auch fehlen», erwiderte Dhars Zwillingsbruder. »Vor allem unsere kleinen
Unterhaltungen.«
Am Flughafen gab
es bei den Sicherheitskontrollen die übliche Schlange. Nachdem sich die beiden Männer
verabschiedet hatten (sie umarmten sich sogar), beobachtete Dr. Daruwalla Martin
weiterhin aus einiger Entfernung. Er passierte eine Polizeisperre, um ihn weiterhin
im Auge behalten zu können. Es ließ sich schwer feststellen, ob seine Verbände die
Aufmerksamkeit der anderen Passagiere auf sich zogen oder seine Ähnlichkeit mit
Dhar, die
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