Zirkuskind
angetan, und alle drei unterhielten sich ausführlich darüber.
Detective Patel war ein stolzer Mensch, Nancy ebenfalls. Beide würden empfindlich
reagieren, wenn sie das Gefühl hätten, die Wohnung würde ihnen aus christlicher
Nächstenliebe angeboten. Man mußte die Sache so drehen, daß sie den Daruwallas einen
Gefallen zu tun glaubten, wenn sie die alten Dienstboten »behielten« und sich um
sie kümmerten. Alle drei sprachen voller Bewunderung vom Kommissar; und über Nancy
hätten sie stundenlang reden können – sie war ohne Zweifel eine vielschichtige Person.
Mit John D. war
es immer einfacher, wenn sich die Unterhaltung um andere Personen drehte; Gesprächen
über sich selbst ging der Schauspieler stets aus dem Weg. Angeregt unterhielten
sich die drei beim Essen über das, was der Kommissar dem Doktor anvertraut hatte
– daß es sehr unwahrscheinlich war, daß man Rahul hängen würde.
Julia und John D.
hatten Farrokh selten so gelöst erlebt. Der [898] Doktor äußerte den dringenden Wunsch,
seine Töchter und Enkelkinder häufiger zu sehen, und betonte wiederholt, daß er
auch John D. häufiger besuchen wolle – »in deiner Schweizer Umgebung«. Die beiden
Männer tranken ziemlich viel Bier und blieben bis spät in die Nacht auf dem Balkon
sitzen, bis der Verkehr auf dem Marine Drive fast eingeschlafen war. Julia leistete
ihnen Gesellschaft.
»Du weißt, Farrokh,
daß ich wirklich zu schätzen weiß, was du alles für mich getan hast«, sagte der
Schauspieler.
»Es hat mir Spaß
gemacht«, antwortete der Drehbuchautor. Er mußte seine Tränen zurückhalten – er
war ein sentimentaler Mensch. Eigentlich war er ganz glücklich, während er in der
Dunkelheit so dasaß. Der Geruch des Arabischen Meeres, die Ausdünstungen der Stadt
– sogar der Mief der ständig verstopften Abflußrohre und der penetrante Gestank
menschlichen Kots – stiegen geradezu tröstlich zu ihnen empor. Farrokh bestand darauf,
einen Toast auf Danny Mills auszubringen. Dhar trank höflich auf Dannys Wohl.
»Er war nicht dein
Vater, davon bin ich fest überzeugt«, erklärte Farrokh John D.
»Davon bin ich auch
überzeugt«, antwortete dieser.
»Warum bist du denn
so glücklich?« fragte Julia ihren Mann.
»Er ist glücklich,
weil er Indien verläßt und nie mehr zurückkommt«, antwortete Inspector Dhar. Er
brachte diesen Satz nahezu vollkommen glaubwürdig vor. Farrokh fand das etwas irritierend,
weil er selbst es sich als Feigheit ankreidete, Indien zu verlassen und nie mehr
zurückzukehren. In John D.s Augen war er dasselbe wie sein Zwillingsbruder, ein
Drückeberger – sofern John D. wirklich glaubte, daß der Doktor nie mehr zurückkehren
würde.
»Ihr werdet schon
sehen, warum ich glücklich bin«, sagte Dr. Daruwalla. Als er auf dem Balkon einschlief,
trug John D. ihn in sein Bett.
[899] »Schau ihn dir an«, sagte Julia. »Er lächelt im Schlaf.«
Er würde ein andermal
Zeit haben, um Madhu zu trauern. Er würde auch noch Zeit haben, sich um Ganesh,
den Elefantenjungen, Sorgen zu machen. An seinem nächsten Geburtstag wurde der Doktor
sechzig. Aber jetzt im Augenblick stellte er sich die Zwillingsbrüder auf dem gemeinsamen
Swissair-Flug 171 vor. Neun Stunden in der Luft müßten ausreichen, um eine Beziehung
anzuknüpfen, dachte Dr. Daruwalla.
Julia wollte im
Bett noch lesen, wurde aber durch Farrokh abgelenkt, der im Schlaf laut auflachte.
Wahrscheinlich ist er betrunken, dachte sie. Dann sah sie, daß sich ein Schatten
über sein Gesicht legte. Wirklich schade, dachte Dr. Daruwalla. Er hätte zu gern
bei den beiden im Flugzeug gesessen – nur um sie zu beobachten und ihnen zuzuhören.
Welcher Sitzplatz befindet sich auf der anderen Seite des Ganges neben 4 B ? überlegte der Doktor. Platz 4 J ? Farrokh hatte häufig diesen Flug
nach Zürich genommen. Es war eine Boeing 747; der Platz gegenüber von 4 B war 4 J , hoffte er.
»Vier Jot«, sagte
er zu der Bodenstewardess. Julia ließ ihr Buch sinken und sah ihn an.
»Liebchen«, flüsterte
sie, »wach entweder auf oder schlaf endlich ein.« Doch jetzt lag wieder ein heiteres
Lächeln auf Dr. Daruwallas Gesicht. Er war genau dort, wo er sein wollte. Es war
Donnerstag nacht – 1 Uhr 45, um genau zu sein –, und der Swissair-Flug 171 startete
vom Flugplatz Sahar. Nur durch den Gang getrennt, starrten die beiden Zwillingsbrüder
einander an; keiner von ihnen brachte ein Wort heraus. Es würde ein bißchen dauern,
bis einer von ihnen das Eis brach,
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