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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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einigen Beobachtern offenbar ins Auge sprang, während sie anderen völlig
entging. Der Doktor hatte Martins Verbände noch einmal erneuert. Die Wunde am Hals
wurde nur noch von einem kleinen Mulltupfer bedeckt, und das verstümmelte Ohrläppchen
blieb unverbunden – es sah häßlich aus, war aber weitgehend verheilt. Die Hand war
noch immer in einen Mullfäustling eingewickelt. Das Opfer des Schimpansen zwinkerte
und lächelte allen zu, die ihn anglotzten. Es war ein [905]  aufrichtiges Lächeln, nicht
Dhars Hohnlächeln, und trotzdem hatte Farrokh das Gefühl, daß der ehemalige Missionar
Dhar noch nie so aufs Haar geglichen hatte. Am Ende eines jeden Inspector-Dhar-Films
entfernt sich Dhar von der Kamera; in diesem Fall war Dr. Daruwalla die Kamera.
Farrokh war zutiefst bewegt; er fragte sich, ob es daran lag, daß Martin ihn mehr
und mehr an John D. erinnerte, oder ob Martin selbst ihn angerührt hatte.
    John D. war nirgends
zu sehen. Dr. Daruwalla wußte, daß der Schauspieler bei jedem Flug stets als erster
an Bord der Maschine ging, hielt aber trotzdem Ausschau nach ihm. Aus künstlerischen
Erwägungen wäre der Drehbuchautor enttäuscht gewesen, wenn sich Inspector Dhar und
Martin Mills in der Schlange vor der Sicherheitskontrolle begegnet wären, denn er
hatte vorgesehen, daß sich die Zwillinge im Flugzeug trafen. Idealerweise sollte
das im Sitzen geschehen, dachte Farrokh.
    Während Martin in
der Schlange wartete, dann schlurfend vorrückte und wieder wartete, sah er fast
normal aus. In seinem bunten Hawaiihemd, über dem er einen schwarzen Tropenanzug
trug, wirkte er irgendwie mitleiderregend. In Zürich würde er sich auf alle Fälle
etwas Wärmeres kaufen müssen. Der Gedanke an diese Ausgaben veranlaßte Dr. Daruwalla,
ihm mehrere hundert Schweizer Franken in die Hand zu drücken – in letzter Minute,
so daß Martin keine Zeit mehr blieb, das Geld abzulehnen. Obwohl es kaum auffiel,
daß er die Augen schloß, während er in der Schlange wartete, war es irgendwie eigenartig.
Sobald die Schlange zum Stehen kam, machte Martin die Augen zu und lächelte; dann
rückte sie ein paar Zentimeter weiter, Martin mit ihr, und er sah aus, als hätte
er neue Kraft geschöpft. Farrokh wußte, was der Narr machte. Martin Mills vergewisserte
sich, daß sich Jesus Christus noch immer auf dem Parkplatz befand.
    Nicht einmal eine
Horde indischer Arbeiter, die vom Golf [906]  zurückkehrten, konnten den ehemaligen
Jesuiten von seiner neuen geistlichen Übung ablenken. Diese Arbeiter waren das,
was Farrokhs Mutter Meher als Persienheimkehrer zu bezeichnen pflegte, doch in diesem
Fall kamen sie nicht aus dem Iran zurück, sondern aus Kuwait – ihre Falttaschen
platzten aus allen Nähten. Außer großen Stereoradios schleppten sie auch ihre Schaumstoffmatratzen
mit; ihre Plastikumhängetaschen waren prallvoll mit Whiskeyflaschen und Armbanduhren,
diversen Sorten Aftershave und Taschenrechnern – einige hatten sogar das Geschirr
aus dem Flugzeug mitgehen lassen. Ein Teil der Arbeiter fuhr vermutlich weiter nach
Oman – oder nach Qatar oder Dubai. Zu Mehers Zeiten waren die sogenannten Persienheimkehrer
mit Goldbarren in den Taschen zurückgekehrt – oder wenigstens mit ein paar Sovereigns.
Heutzutage brachten sie vermutlich nicht viel Gold nach Hause. Trotzdem betranken
sie sich im Flugzeug. Doch selbst als ein paar besonders ungestüme Heimkehrer Martin
Mills anrempelten, hielt dieser die Augen geschlossen und lächelte. Solange sich
Jesus noch auf dem Parkplatz befand, war Martins Welt in Ordnung.
    Während seines restlichen
Aufenthaltes in Bombay sollte Dr. Daruwalla es bedauern, daß er keine so beruhigende
Vision erblickte, wenn er die Augen schloß; keinen Christus, nicht einmal einen
Parkplatz. Er erzählte Julia, daß er immer wieder von einem Traum heimgesucht wurde,
den er nicht mehr gehabt hatte, seit er Indien zum erstenmal verlassen hatte, um
in Österreich zu studieren. Der alte Lowji hatte ihm damals erklärt, diese Art Traum
sei bei Teenagern recht häufig. Aus irgendeinem Grund steht man plötzlich in aller
Öffentlichkeit nackt da. Vor langer Zeit hatte Farrokhs eigenwilliger Vater dafür
eine wenig plausible Interpretation geliefert. »Das ist der Traum eines frisch Eingewanderten«,
hatte Lowji erklärt. Vielleicht hatte er doch recht gehabt, dachte Farrokh jetzt.
Er hatte Indien schon viele Male verlassen, doch diesmal würde er sein [907]  Geburtsland
in der absoluten Gewißheit verlassen,

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