Zirkuskind
daß er nie mehr zurückkehren würde. Dessen
war er sich noch nie so sicher gewesen.
Als Erwachsener
hatte er die meiste Zeit mit dem unbehaglichen Gefühl gelebt (vor allem in Indien),
kein echter Inder zu sein. Wie würde ihm zumute sein, wenn er jetzt in Toronto mit
der unbehaglichen Gewißheit lebte, daß er sich nie wirklich assimiliert hatte? Obwohl
er kanadischer Staatsbürger war, wußte er, daß er kein Kanadier war; er würde sich
nie richtig »assimiliert« fühlen. Eine boshafte Bemerkung des alten Lowji sollte
Farrokh ewig verfolgen: »Einwanderer bleiben ihr Leben lang Einwanderer!« Mag sein,
daß man eine so negative Aussage widerlegen kann, aber vergessen wird man sie nie.
Manche Gedanken prägen sich im Lauf der Zeit so lebhaft ein, daß sie zu sichtbaren
Gegenständen werden, zu konkreten Dingen.
Zum Beispiel eine
rassistische Beleidigung – nicht zu vergessen der damit einhergehende Verlust der
Selbstachtung. Oder diese subtilen angelsächsischen Feinheiten, die in Kanada häufig
auf Farrokh einstürmten und ihm das Gefühl gaben, immer abseits zu stehen. Manchmal
war es einfach nur ein säuerlicher Blick – dieser vertraute, mürrische Gesichtsausdruck,
der die alltäglichsten Begegnungen begleitete. Die Art, wie sorgfältig manche Leute
die Unterschrift auf deiner Kreditkarte unter die Lupe nahmen, als könnte sie unmöglich
mit deiner Unterschrift übereinstimmen; oder wie ihre Blicke beim Zurückgeben des
Wechselgeldes immer auf deiner offenen Handfläche verharrten – die eine andere Farbe
hat als der Handrücken. Der Unterschied war etwas größer als der, den sie als selbstverständlich
hinnahmen – nämlich der zwischen ihren eigenen Handflächen und Handrücken (»Einwanderer
bleiben ihr Leben lang Einwanderer!)«
Als Farrokh zum
erstenmal sah, wie Suman im Great Royal Circus den Deckenlauf vorführte, konnte
er sich nicht [908] vorstellen, daß sie abstürzen könnte. Sie sah vollkommen aus –
sie war so schön, und ihre Schritte waren so präzise. Dann, ein andermal, sah er
sie vor ihrem Auftritt im Sattelgang stehen. Er war erstaunt, daß sie ihre Muskeln
nicht dehnte. Sie bewegte nicht einmal die Füße, sondern stand absolut reglos da.
Vielleicht konzentriert sie sich, dachte Dr. Daruwalla. Sie sollte nicht merken,
daß er sie beobachtete, denn er wollte sie nicht ablenken.
Als Suman zu ihm
hinübersah, wurde Farrokh klar, daß sie sich wirklich konzentriert haben mußte,
weil sie ihn gar nicht wahrnahm, obwohl sie sonst stets sehr höflich war; sie sah
geradewegs an ihm vorbei oder durch ihn hindurch. Das frische puja -Mal auf ihrer Stirn war verschmiert.
Es war nur ein winziger Makel, doch als Dr. Daruwalla den Fleck sah, wurde ihm schlagartig
bewußt, daß Suman sterblich war. Von dem Augenblick an hielt Farrokh es für möglich,
daß sie abstürzte. Danach konnte er ihr nie wieder gelassen beim Deckenlauf zusehen,
weil sie ihm auf einmal unerträglich verletzlich vorkam. Sollte jemand Dr. Daruwalla
irgendwann berichten, Suman sei heruntergefallen und gestorben, würde er sie mit
verschmiertem puja -Mal
im Schmutz liegen sehen. (»Einwanderer bleiben ihr Leben lang Einwanderer« gehörte
in diese Kategorie Schmutzflecke.)
Möglicherweise hätte
es Dr. Daruwalla geholfen, wenn er Bombay so rasch hätte verlassen können wie die
Zwillinge. Aber Filmstars, die sich aus dem Geschäft zurückzogen, und ehemalige
Missionare können eine Stadt schneller verlassen als Ärzte; Chirurgen haben ihre
Operationspläne und ihre frisch operierten Patienten. Und Drehbuchautoren müssen
sich, genau wie andere Autoren, auch um ihre winzigen, vertrackten Details kümmern.
Farrokh wußte, daß
er nie mit Madhu sprechen würde. Im günstigsten Fall konnte er ihr, durch Vinod
oder Deepa, etwas mitteilen lassen oder etwas über ihren Zustand erfahren. Der Doktor
wünschte, das Mädchen hätte das Glück gehabt, im [909] Zirkus zu sterben. Der Tod,
den er für seine Pinky ersonnen hatte – von einem Löwen getötet zu werden, der sie
irrtümlich für einen Pfauen hält –, trat ungleich rascher ein als der, der Madhu
sehr wahrscheinlich bevorstand.
Ähnlich gering war
die Hoffnung des Drehbuchautors, daß der echte Ganesh im Zirkus Erfolg haben würde,
zumindest nicht in dem Ausmaß wie der fiktive Ganesh. Für den Elefantenjungen würde
es keinen Deckenlauf geben – ein Jammer, denn das wäre einfach ein perfekter Schluß.
Wenn es dem verkrüppelten Jungen gelänge, zum
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