Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
ist, wenn er
überhaupt nicht spielen kann? Die Sache könnte furchtbar peinlich für dich werden!«
    »Wir haben probiert«,
sagte der ehemalige Inspector Dhar.
    »Und du hast dich
vermutlich als Martin ausgegeben«, bemerkte Farrokh. »Vorlesungen über Graham Greene,
ohne Zweifel… Martins heißgeliebte ›katholische Interpretation‹. Und ein paar anregende
Vorträge in diesen jesuitischen Zentren… ein Jesus auf jedem Parkplatz, mehr als
genug Christusse für alle… und dergleichen mehr.«
    »Ja«, gab John D. zu. »Es hat Spaß gemacht.«
    »Ihr solltet euch
schämen! Alle beide!« schrie Dr. Daruwalla ins Telefon.
    »Du hast uns zusammengebracht«,
entgegnete John D.
    Farrokh wußte, daß
sich die Zwillinge äußerlich inzwischen sehr viel mehr glichen. John D. hatte einige
Pfunde abgenommen, Martin hatte sie angesetzt – kaum zu glauben, daß der ehemalige
Jesuit sogar regelmäßig Gymnastik machte. Auch die Haare hatten sie sich gleich
geschnitten. Nachdem die Zwillinge neununddreißig Jahre getrennt waren, nahmen sie
ihre identischen Anlagen relativ ernst.
    Dann trat jene eigenartige
transatlantische Stille ein, begleitet von einem rhythmischen Piepsen – einem Geräusch,
das die [949]  Zeiteinheiten zu zählen schien. Und John D. bemerkte: »Dort… ist jetzt
wahrscheinlich Sonnenuntergang.« Mit »dort« meinte er Bombay. Wenn man die zehneinhalb
Stunden Zeitunterschied bedachte, ging wohl ungefähr jetzt die Sonne unter, überlegte
Dr. Daruwalla. »Ich wette, sie ist auf dem Balkon und schaut zu«, fuhr John D. fort.
»Was meinst du?« Dr. Daruwalla wußte, daß der ehemalige Inspector Dhar an Nancy
dachte und an die Aussicht nach Westen.
    »Vermutlich ist
jetzt etwa die richtige Zeit«, antwortete der Doktor vorsichtig.
    »Wahrscheinlich
ist es noch zu früh, als daß der brave Polizist schon zu Hause wäre«, fuhr John
D. fort. »Sie ist ganz allein, aber ich wette, daß sie auf dem Balkon steht und
schaut.«
    »Ja, wahrscheinlich«,
sagte Dr. Daruwalla.
    »Wollen wir wetten«,
fragte John D. »Du könntest sie doch anrufen, um festzustellen, ob ich recht habe.
Du merkst es daran, wie lange es dauert, bis sie ans Telefon geht.«
    »Warum rufst du
sie nicht selber an?« fragte Farrokh.
    »Ich rufe Nancy
nie an«, sagte John D.
    »Sie würde sich
wahrscheinlich freuen, von dir zu hören«, log Farrokh.
    »Nein, das würde
sie nicht«, sagte John D. »Aber ich gehe jede Wette ein, daß sie auf dem Balkon
ist. Komm schon, ruf sie an.«
    »Ich will sie aber
nicht anrufen!« rief Dr. Daruwalla. »Aber ich gebe dir recht, wahrscheinlich ist
sie auf dem Balkon. Also… du hast die Wette gewonnen, oder es gibt keine Wette.
Sie ist auf dem Balkon. Belassen wir es dabei.« Wo sonst sollte Nancy sein? fragte
sich der Doktor. Er war ziemlich sicher, daß John D. betrunken war.
    »Bitte, ruf sie
an. Bitte, tu es für mich, Farrokh«, bat ihn John D.
    Es gehörte nicht
viel dazu. Dr. Daruwalla rief in seiner [950]  ehemaligen Wohnung am Marine Drive an.
Das Telefon klingelte endlos; es klingelte so lange, daß der Doktor schon auflegen
wollte. Dann nahm Nancy ab. Er hörte ihre niedergeschlagene Stimme, ohne jede Erwartung.
Eine Weile plauderte der Doktor einfach so dahin. Er tat so, als wäre sein Anruf
völlig bedeutungslos, nur so eine Laune. Vijay war noch nicht aus dem Kriminalkommissariat
zurück, teilte Nancy ihm mit. Sie würden im Duckworth Club zu Abend essen, aber
ein bißchen später als sonst. Sie wußte, daß es wieder ein Bombenattentat gegeben
hatte, aber über Einzelheiten wußte sie nicht Bescheid.
    »Haben Sie einen
schönen Sonnenuntergang?« fragte Farrokh.
    »O ja, er ist schon
am Verblassen«, sagte Nancy.
    »Na, dann laß ich
Sie lieber zu ihm zurückkehren!« sagte er ein bißchen zu herzlich. Dann rief er
John D. an und berichtete ihm, daß sie tatsächlich auf dem Balkon gewesen war. Farrokh
wiederholte Nancys Bemerkung über den Sonnenuntergang – »schon am Verblassen«. Der
pensionierte Inspector Dhar wiederholte die Zeile mehrere Male – so lange, bis ihm
Dr. Daruwalla versicherte, daß er den Ton richtig getroffen hatte, daß es sich genauso
anhörte wie bei Nancy. Er ist wirklich ein guter Schauspieler, dachte Farrokh. Es
war beeindruckend, wie treffend John D. den genauen Grad an Leblosigkeit in Nancys
Stimme nachahmen konnte.
    »Schon am Verblassen«,
sagte John D. immer wieder. »Wie klingt das?«
    »Das ist es. Du
hast es getroffen«, bestätigte ihm

Weitere Kostenlose Bücher