Zirkuskind
Farrokh.
»Ich kann mich nicht
mehr erinnern«, antwortete John D. regelmäßig.
»Natürlich kannst
du dich erinnern!« rief Martin Mills. »Du hast es doch geschrieben! Er wollte mich
kein Wort dazu beitragen lassen«, beschwerte er sich. »Er behauptete, die Einzeiler
fielen in sein Fach. Er wollte es unbedingt allein schreiben.«
»Was du ihr hättest
sagen wollen, hätte nicht in ein Telegramm gepaßt«, erinnerte John D. seinen Zwillingsbruder.
»Was er ihr an den
Kopf geworfen hat, war unsagbar grausam. Es war mir unbegreiflich, wie er so grausam
sein konnte. Dabei kannte er sie nicht mal!« berichtete Martin Mills dem Doktor.
»Er hat mich gebeten,
das Telegramm abzuschicken. Offensichtlich hatte er damals keine Bedenken«, erklärte
John D. Farrokh.
[944] »Aber was hast
du denn geschrieben? Was stand denn nun in dem verdammten Telegramm?« schrie Dr.
Daruwalla.
»Es war unsagbar
grausam«, wiederholte Martin.
»Sie hat es verdient,
und das weißt du genau«, sagte John D.
Was immer in dem
Telegramm stand, Dr. Daruwalla wußte, daß Vera, nachdem sie es erhalten hatte, nicht
mehr lange lebte. Durch Ranjit erfuhr er von ihrem hysterischen Anruf. Vera hatte
in der Zeit, in der sich Farrokh noch in Bombay aufhielt, in seiner Klinikpraxis
angerufen und ihm eine Nachricht hinterlassen.
»Hier ist Veronica
Rose, die Schauspielerin«, hatte sie Dr. Daruwallas Sekretär erklärt. Ranjit wußte,
wer sie war. Er würde nie vergessen, wie er den Krankenbericht über Veras Knieprobleme
geschrieben hatte, die sich als gynäkologische Beschwerden entpuppten – als »vaginales
Jucken«, wie Dr. Lowji Daruwalla es genannt hatte.
»Sagen Sie dem Scheißdoktor,
daß ich Bescheid weiß, daß er mich hintergangen hat!« sagte Vera zu Ranjit.
»Sind es wieder…
Ihre Knie?« fragte der alte Arzthelfer.
Dr. Daruwalla rief
nie zurück. Vera schaffte es nicht mehr bis zurück nach Kalifornien, bevor sie starb.
Ihr Tod hing mit den Schlaftabletten zusammen, die sie regelmäßig nahm und unregelmäßig
mit Wodka hinunterspülte.
Martin blieb in
Europa. Die Schweiz sagte ihm offenbar sehr zu. Und obwohl der ehemalige Scholastiker
nie sportliche Ambitionen hatte erkennen lassen, fand er die Ausflüge, die John
D. mit ihm in die Alpen unternahm, herrlich. Skifahren würde er nie lernen (dazu
waren seine Bewegungen zu unkoordiniert), aber Langlaufen und Wandern machten ihm
großen Spaß. Vor allem war er sehr gern mit seinem Bruder zusammen. Selbst John
D. gab zu, wenn auch recht spät, daß sie gern zusammen waren.
Der ehemalige Jesuit
suchte sich allerlei Beschäftigungen; er [945] unterrichtete Englisch an der Universität
Zürich und General Studies an der American International School of Zurich; im Schweizer
Jesuitenzentrum war er ebenfalls aktiv. Gelegentlich besuchte er andere jesuitische
Einrichtungen, darunter Jugendzentren und Studentenheime in Basel und Bern und Zentren
für Erwachsenenbildung in Fribourg und Bad Schönbrunn – Martin Mills war ohne Zweifel
ein erfolgreicher und mitreißender Redner. Farrokh stellte sich vor, daß das weitere
Predigten über Christus auf dem Parkplatz bedeutete, denn der ehemalige Glaubenseiferer
ließ auch weiterhin nichts unversucht, um die Einstellung anderer Menschen zu verbessern.
John D. blieb seinem
eigentlichen Metier treu; der solide Schauspieler war mit seinen Rollen am Zürcher
Schauspielhaus zufrieden. Seine Freunde waren Theaterleute oder arbeiteten an der
Universität oder in einem renommierten Verlag; und natürlich traf er sich häufig
mit Farrokhs Bruder Jamshed und dessen Frau (Julias Schwester) Josefine.
In diese ziemlich
anspruchsvollen gesellschaftlichen Kreise führte John D. seinen Zwillingsbruder
ein. Martin, anfangs eine Kuriosität – jeder interessiert sich für die Geschichte
von Zwillingen, die bei der Geburt getrennt worden sind –, gewann viele Freunde
unter diesen Leuten; nach drei Jahren hatte er wahrscheinlich mehr Freunde als der
Schauspieler. Martins erster Liebhaber war ein Exfreund von John D., was Dr. Daruwalla
etwas seltsam fand. Die Zwillinge stellten das Ganze als Witz hin – wahrscheinlich,
um mich zu ärgern, dachte der Doktor.
Apropos Liebhaber:
Matthias Frei starb. Das einstige Schreckgespenst der Zürcher Avantgarde war lange
Jahre mit John D. liiert gewesen. Das erfuhr Farrokh von Julia, die seit geraumer
Zeit wußte, daß John D. und Frei ein Paar waren. »Frei ist doch nicht an Aids gestorben,
oder?« fragte der
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