Zirkuskind
Doktor seine Frau. Sie warf ihm denselben Blick zu, den er von
John D. kassiert hätte; jenes [946] Lächeln von Filmplakaten aus längst vergangenen
Zeiten, das ihm Inspector Dhars beißendes Hohnlächeln ins Gedächtnis rief.
»Nein, Frei ist
nicht an Aids gestorben, sondern an einem Herzinfarkt!« teilte Julia ihrem Mann
mit.
Kein Mensch erzählt
mir etwas! dachte der Doktor. Es war genau wie mit dieser Unterhaltung der Zwillinge
auf dem Swissair-Flug 197 von Bombay nach Zürich, der einen erheblichen Teil von
Farrokhs Phantasie auf Trab hielt, vor allem deshalb, weil John D. und Martin Mills
ein solches Geheimnis daraus machten.
»Also, hört mir
zu, alle beide«, sagte Dr. Daruwalla wiederholt zu den Zwillingen. »Ich will meine
Nase wirklich nicht in eure Angelegenheiten stecken, ich respektiere eure Privatsphäre
durchaus. Aber ihr wißt doch, wie sehr ich mich für Dialoge interessiere. Dieses
Gefühl der Nähe – denn für mich ist offensichtlich, daß ihr euch nahesteht… hat
sich das gleich bei eurer allerersten Begegnung eingestellt? Es muß im Flugzeug
passiert sein! Es gibt doch sicher mehr zwischen euch als den gemeinsamen Haß auf
eure verstorbene Mutter… oder stimmt es wirklich, daß euch das Telegramm an Vera
zusammengebracht hat?«
»Das Telegramm war
kein Dialog. Ich dachte, du interessierst dich nur für unseren Dialog«, entgegnete
John D.
»Mir wäre so ein
Telegramm nie im Leben eingefallen!« sagte Martin Mills.
»Ich bin überhaupt
nicht zu Wort gekommen«, wiederholte John D. »Es fand gar kein Dialog statt. Martin
hat einen Monolog nach dem anderen gehalten.«
»Er ist eben Schauspieler,
na schön«, sagte Martin zu Farrokh. »Ich weiß, daß er eine Figur erschaffen kann,
wie man so sagt, aber ich sage dir, mir kam er vor wie der leibhaftige Satan… ich
meine, der echte.«
»Neun Stunden sind
eine lange Zeit, um sich mit jemandem zu unterhalten«, sagte John D. mit Vorliebe
an dieser Stelle.
[947] »Genaugenommen
neun Stunden und fünfzehn Minuten«, verbesserte ihn Martin.
»Der springende
Punkt ist, daß ich es kaum erwarten konnte, aus dem Flugzeug zu kommen«, erzählte
John D. Dr. Daruwalla. »Er hat mir die ganze Zeit eingeredet, es sei Gottes Wille,
daß wir uns begegnet sind. Ich dachte, ich werde noch verrückt. Die einzige Möglichkeit,
sich von ihm loszueisen, bestand darin, auf die Toilette zu gehen.«
»Du hast dich ja
praktisch häuslich dort niedergelassen! Du hast Unmengen Bier getrunken. Und es
war doch Gottes Wille – das erkennst du jetzt doch, oder?« fragte Martin John D.
»Es war Farrokhs
Wille«, entgegnete John D.
»Dich reitet wirklich
der Teufel!« sagte Martin zu seinem Zwillingsbruder.
»Nein, er reitet
euch alle beide!« wetterte Dr. Daruwalla, obwohl er feststellen mußte, daß er beide
gern hatte, wenn auch nicht gleich gern. Er freute sich auf ihre Besuche und auf
ihre Briefe oder Anrufe. Martin schrieb ziemlich lange Briefe, während John D. selten
schrieb, dafür aber häufig telefonierte. Manchmal, wenn er anrief, ließ sich schwer
feststellen, was er eigentlich wollte. Gelegentlich, nicht oft, ließ sich schwer
feststellen, wer eigentlich anrief, John D. oder der frühere Inspector Dhar.
»Hallo, ich bin
es«, sagte er eines Morgens zu Farrokh; er hörte sich beschwipst an. In Zürich war
es früher Nachmittag. John D. sagte, er käme gerade von einem unklugen Mittagessen.
Und »unklug« bedeutete bei ihm in diesem Zusammenhang, daß er etwas Stärkeres getrunken
hatte als Bier. Zwei Gläser Wein genügten, um ihn betrunken zu machen.
»Ich hoffe, du mußt
heute abend nicht auf die Bühne!« sagte Dr. Daruwalla und hätte sich am liebsten
sogleich die Zunge abgebissen, weil er so väterlich streng geklungen hatte.
»Heute abend ist
meine Zweitbesetzung dran«, erklärte ihm der Schauspieler. Farrokh hatte sehr wenig
Ahnung vom [948] Theater; er wußte auch nicht, daß es im Zürcher Schauspielhaus Zweitbesetzungen
gab. Außerdem war er sicher, daß John D. derzeit eine kleine Nebenrolle spielte.
»Es ist beeindruckend,
daß es für eine so kleine Rolle eine Zweitbesetzung gibt«, sagte der Doktor vorsichtig.
»Meine ›Zweitbesetzung‹
ist Martin«, gestand John D. »Wir dachten, wir versuchen es mal, nur um zu sehen,
ob es jemand merkt.«
»Du solltest etwas
sorgsamer mit deiner Karriere umgehen«, schalt Farrokh John D., und es klang erneut
väterlich streng. »Martin ist manchmal ein ganz schöner Trottel! Was
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