Zirkuskind
achtzehn sein, wirkte
auf den Arzt aber wie sechzehn; ihr zwergwüchsiger Sohn Shivaji war knappe zwei
Jahre alt. Deepa war mit elf oder zwölf Jahren von ihrer Mutter an den Great Blue
Nile verkauft worden – in einem Alter also, in dem ihre Mutter sie ebensogut an
ein Bordell hätte verschachern können. Die Frau des Zwergs wußte, daß sie Glück
gehabt hatte, bei einem Zirkus gelandet zu sein. Sie war so dünn, daß man im Blue
Nile zunächst versucht hatte, eine Kontorsionistin aus ihr zu machen – ein Mädchen
ohne Knochen, eine Gummifrau. Doch mit zunehmendem Alter wurde Deepa zu ungelenkig
für ein Schlangenmädchen. Selbst Vinod war der Ansicht, daß Deepa zu alt war, als
sie mit dem Training als Fliegerin begann; die meisten Trapezkünstler lernen das
Fliegen als Kinder.
Die Frau des Zwergs
war zwar nicht »schon fast schön«, aber aus einiger Entfernung doch zumindest hübsch.
Sie hatte die Stirn voller Pockennarben und wies die typischen Merkmale des Rachitikers
auf – den nach vorn gewölbten Thorax und den rachitischen Rosenkranz. (»Rosenkranz«
nennt man das deshalb, weil sich an jeder Nahtstelle zwischen Rippe und Brustbeinknorpel
eine murmelartige Verdickung befindet, ähnlich einer Perle.) Deepa hatte so kleine
Brüste, daß ihr Brustkorb fast so flach war wie bei einem Jungen. Ihre Hüften jedoch
waren fraulich, und weil das Sicherheitsnetz unter ihrem Gewicht durchhing, sah
es so aus, als läge sie mit dem Gesicht nach unten im Netz, während das Becken nach
oben gekippt war – in Richtung auf das einsam schwingende Trapez.
So wie die Fliegerin
gefallen war und jetzt im Netz lag, war Farrokh ziemlich sicher, daß Deepas Hüfte
das Problem war – nicht der Hals oder das Rückgrat. Doch bevor sie nicht jemand
daran hinderte, weiter im Netz herumzuzappeln, wagte sich der Doktor nicht an sie
heran. Vinod war sofort ins Netz gekrabbelt, und Farrokh wies ihn nun an, den Kopf
seiner Frau zwischen die Knie zu klemmen und sie an den Schultern [25] festzuhalten.
Erst als der Zwerg sie so festhielt – erst als Deepa weder den Hals noch den Rücken
bewegen noch die Schultern drehen konnte –, wagte sich Dr. Daruwalla ins Netz.
Die ganze Zeit,
die Vinod brauchte, um zu seiner Frau ins Netz zu klettern und ihren Kopf zwischen
seine Knie zu klemmen und dort festzuhalten – während Dr. Daruwalla in das durchhängende
Netz krabbelte und sich langsam und ungeschickt zu den beiden vorarbeitete –, hörte
das Netz nicht auf zu schwanken, während das leere Trapez darüber in einem anderen
Rhythmus hin und her schwang.
Dr. Daruwalla war
noch nie in einem Sicherheitsnetz gewesen. Für einen unsportlichen Menschen wie
den Doktor, der (auch schon vor fünfzehn Jahren) ziemlich rundlich war, bedeutete
diese Klettertour einen gigantischen Kampf, den zu bestehen ihm nur die Dankbarkeit
für seine ersten Zwergenblutproben half. Als er sich in dem schwankenden, bei jedem
Tritt nachgebenden Netz auf allen vieren zu der armen, von ihrem Mann fest umklammerten
Deepa vorarbeitete, glich er einer zaghaften, fetten Maus, die ein riesiges Spinnennetz
überquert.
Farrokhs unsinnige
Angst, aus dem Netz geschleudert zu werden, lenkte ihn wenigstens von dem Gemurmel
des Zirkuspublikums ab; die Leute warteten ungeduldig darauf, daß die Rettungsmaßnahmen
zügig vorangingen. Daß Dr. Daruwalla der unruhigen Menge über Lautsprecher vorgestellt
wurde, bereitete ihn keineswegs auf die Schwierigkeit seines Unterfangens vor. »Und
da kommt auch schon der Doktor!« hatte der Zirkusdirektor lauthals verkündet, ein
melodramatischer Versuch, die Menge bei Laune zu halten. Aber es dauerte eine Ewigkeit,
bis der Arzt die abgestürzte Fliegerin erreichte. Dazu kam, daß das Netz unter Farrokhs
Gewicht noch weiter durchhing, so daß er aussah wie ein unbeholfener Liebhaber,
der sich auf einem weichen, in der Mitte einsackenden Bett an das Objekt seiner
Lust heranpirscht.
[26] Dann plötzlich
fiel das Netz so steil ab, daß der korpulente Dr. Daruwalla das Gleichgewicht verlor
und ungeschickt nach vorn fiel. Seine Finger stießen durch die Maschen im Netz,
und da er seine Sandalen ausgezogen hatte, bevor er ins Netz geklettert war, versuchte
er, auch die Zehen (wie Klauen) durch die Löcher zu stecken. Doch so sehr er sich
auch bemühte, seinen Schwung abzubremsen (der jetzt endlich ein für das gelangweilte
Publikum interessantes Tempo erreicht hatte): die Schwerkraft siegte. Dr. Daruwalla
landete kopfüber auf Deepas
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