Zirkuskind
sieben gewaltige
Mauerringe auf dem Malabar Hill, in die sie die nackten Leiber ihrer Toten legen,
um sie von den Aasfressern sauber abpicken zu lassen. Dr. Daruwalla, der selbst
ein Parse war, stammte von persischen Anhängern der Lehre des Zarathustra ab, die
im siebten und achten Jahrhundert nach Indien [29] gekommen waren, um der Verfolgung
durch die Muslime zu entgehen. Doch Farrokhs Vater war ein derart vehementer und
erbitterter Atheist gewesen, daß sein Sohn den Glauben seiner Vorfahren nie praktiziert
hatte. Farrokhs Übertritt zum Christentum hätte seinen gottlosen Vater ohne Zweifel
umgebracht, wenn dieser nicht schon tot gewesen wäre; denn Dr. Daruwalla konvertierte
erst mit knapp vierzig Jahren.
Da Dr. Daruwalla
inzwischen Christ war, würden seine sterblichen Überreste niemals in die Türme des
Schweigens gebracht werden; doch trotz des hitzigen Atheismus seines Vaters respektierte
er die Bräuche der anderen Parsen und gläubigen Anhänger der zoroastrischen Lehre
– und rechnete sogar damit, Geier zur Ridge Road und zurückfliegen zu sehen. Und
so überraschte es ihn auch nicht, daß dieser eine Geier über dem Duckworth-Golfplatz
es offensichtlich nicht eilig hatte, zu den Türmen des Schweigens zu gelangen. Dort
war alles mit dichtem Pflanzengestrüpp bewachsen, und niemand, nicht einmal ein
Parse, war auf dem Bestattungsgelände willkommen, es sei denn, er war tot.
Im allgemeinen war
Dr. Daruwalla den Geiern wohlgesonnen. Die Kalksteinmauern trugen dazu bei, daß
sich selbst größere Knochen rasch zersetzten, und die Teile der toten Parsen, die
unbeschadet blieben, wurden in der Monsunzeit vom Regen fortgeschwemmt. Was die
Entsorgung der Toten betraf, hatten die Parsen nach Ansicht des Doktors eine bewundernswerte
Lösung gefunden.
Aber zurück zu den
Lebenden. Dr. Daruwalla war an diesem Morgen, wie an den meisten Tagen, früh aufgestanden.
Unter den ersten Operationen in der Klinik für Verkrüppelte Kinder, wo er nach wie
vor unentgeltlich als chirurgischer Konsiliar arbeitete, waren ein Klumpfuß und
ein Schiefhals. Die zweite Operation wird heutzutage nur selten durchgeführt – und
gehörte auch nicht zu den Eingriffen, denen Farrokhs [30] Hauptinteresse während seiner
sporadischen orthopädischen Tätigkeit in Bombay galt. Er interessierte sich mehr
für Knochen- und Gelenkinfektionen. In Indien treten solche Infektionen üblicherweise
nach Verkehrsunfällen mit komplizierten Frakturen auf; die Fraktur ist der Luft
ausgesetzt, weil die Haut verletzt ist, und fünf Wochen nach dem Unfall quillt Eiter
aus einer Fistel (einem von faltiger Haut umgebenen Verbindungsgang zwischen infizierter
Stelle und Oberhaut) in der Wunde. Solche Infektionen sind chronisch, weil der Knochen
abgestorben ist und sich abgestorbener Knochen, Sequester genannt, wie ein Fremdkörper
verhält. Deshalb wurde Farrokh von seinen Orthopädenkollegen in Bombay gern als
»Sequester«-Daruwalla bezeichnet – ein paar, die ihn besonders gut kannten, nannten
ihn auch »Zwergenblut«-Daruwalla. Aber Spaß beiseite, Knochen- und Gelenkentzündungen
waren kein weiteres Hobby, sondern Farrokhs Spezialgebiet.
In Kanada kam es
dem Doktor oft so vor, als bekäme er in seiner orthopädischen Praxis beinahe so
viele Sportverletzungen zu sehen wie Geburtsschäden oder spastische Versteifungen.
In Toronto war Dr. Daruwallas Spezialgebiet nach wie vor die Kinderorthopädie, aber
viel dringender gebraucht – und daher lebendiger – fühlte er sich in Bombay. In
Indien kamen die Orthopädiepatienten oft mit Taschentüchern um die Beine in die
Klinik. Diese Taschentücher bedeckten Fistelgänge, aus denen kleine Mengen Eiter
sickerten – jahrelang. Zudem nahmen in Bombay Patienten wie auch Chirurgen Amputationen
und einfache, schnell angepaßte Prothesen eher in Kauf. In Toronto, wo Dr. Daruwalla
für eine neue Technik im Bereich der Mikrogefäßchirurgie bekannt war, wären solche
Behandlungsmethoden undenkbar gewesen.
In Indien war keine
Heilung möglich, ohne daß der abgestorbene Knochen entfernt wurde, und da häufig
zuviel abgestorbener Knochen entfernt werden mußte, wäre der Arm oder [31] das Bein
nicht mehr belastbar gewesen. In Kanada hingegen konnte Farrokh dank langfristiger,
intravenös verabreichter Antibiotika den abgestorbenen Knochen entfernen und anschließend
einen Muskel samt Blutversorgung in den infizierten Bereich einsetzen. Eingriffe
dieser Art waren in Bombay nicht möglich – es sei
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