Zirkuskind
noch durch ein anderes,
für chondrodystrophe Zwerge typisches Merkmal betont: Da die Röhrenknochen verkürzt
sind, schiebt sich die Muskelmasse zusammen, so daß der Eindruck geballter Kraft
entsteht. In Vinods Fall hatten lebenslanges Purzelbaumschlagen und andere akrobatische
Kunststücke zu einer besonders ausgeprägten Schultermuskulatur geführt; Unterarme
und Bizeps traten ebenfalls deutlich hervor. Vinod war ein altgedienter Zirkusclown,
sah aber aus wie ein Schläger im Kleinformat. Farrokh hatte ein bißchen Angst vor
ihm.
»Was genau wollen
Sie eigentlich mit meinem Blut machen?« fragte der zwergwüchsige Clown den Arzt.
»Ich suche nach
diesem geheimnisvollen Ding, das aus dir einen Zwerg gemacht hat«, antwortete Dr.
Daruwalla.
[22] »Ein Zwerg zu
sein ist doch nichts Geheimnisvolles!« konterte Vinod.
»Ich suche nach
etwas in deinem Blut, das, falls ich es entdecke, anderen Menschen helfen kann,
keine Zwerge zur Welt zu bringen«, erklärte der Doktor.
»Warum wollen Sie,
daß es keine Zwerge mehr gibt?« fragte der Zwerg.
»Blutabnehmen tut
nicht weh«, gab Dr. Daruwalla zurück. »Die Nadel tut nicht weh.«
»Alle Nadeln tun
weh«, sagte Vinod.
»Haben Sie Angst
vor der Nadel?« fragte Farrokh den Zwerg.
»Ich brauche mein
Blut im Augenblick selbst«, antwortete Vinod.
Die »schon fast
schöne« Deepa erlaubte dem Arzt ebenfalls nicht, ihr Zwergenkind mit einer Nadel
zu pieksen. Allerdings meinte sowohl sie als auch Vinod, im Great Blue Nile Circus,
der noch eine Woche in Bombay gastierte, gebe es eine Menge anderer Zwerge, die
Dr. Daruwalla ja vielleicht etwas von ihrem Blut geben würden. Vinod sagte, es wäre
ihm eine Freude, den Arzt mit den Clowns vom Blue Nile bekanntzumachen. Dar-über
hinaus empfahl er ihm, sie mit Alkohol und Tabak zu bestechen, und gab ihm den guten
Rat, den Zweck, für den er ihr Blut benötigte, anders zu formulieren. »Sagen Sie
ihnen, Sie brauchen das Blut, um einem sterbenden Zwerg neue Kraft zu geben«, schlug
Vinod vor.
So war das Zwergenblut-Projekt
in Gang gekommen. Fünfzehn Jahre war es her, daß Dr. Daruwalla das erste Mal zum
Zirkusgelände auf dem Cross Maidan gefahren war. Er hatte seine Nadeln, seine Nadelaufsätze
aus Plastik und seine gläsernen Röhrchen (sogenannte Vacutainer) dabei. Um sich
die Zwerge gewogen zu machen, nahm er zwei Kisten Kingfisher Bier und zwei Stangen
Marlboro mit; letztere waren laut Vinod bei seinen [23] Clownkollegen besonders beliebt,
weil ihnen der Marlboro-Mann so imponierte. Wie sich herausstellte, hätte Farrokh
das Bier besser zu Hause gelassen. In der windstillen Hitze des frühen Abends tranken
die Clowns vom Great Blue Nile Circus zuviel Kingfisher. Zwei von ihnen fielen in
Ohnmacht, während ihnen der Doktor Blut abnahm, was Vinod als weiteren Beweis dafür
wertete, daß er sein Blut besser bis auf den letzten Tropfen für sich behielt.
Sogar die arme Deepa
pichelte ein Kingfisher. Kurz vor ihrem Auftritt klagte sie über leichten Schwindel,
der sich verstärkte, als sie an den Knien vom fliegenden Trapez hing. Sodann versuchte
Deepa, im Sitzen zu schwingen, aber die Hitze war nach oben in die Zeltkuppel gestiegen,
so daß sie das Gefühl hatte, mit dem Kopf in der unerträglich heißen Luft steckenzubleiben.
Sie fühlte sich erst ein wenig besser, als sie den Holm mit beiden Händen umklammerte
und immer kräftiger hin und her schwang. Ihre Passage war die einfachste, die jeder
Luftakrobat beherrschte, aber Deepa hatte noch nicht gelernt, wie sie es anstellen
mußte, daß der Fänger sie an den Handgelenken zu fassen bekam, bevor sie seine packte.
Sie brauchte einfach nur den Holm loszulassen, sobald sich ihr Körper parallel zum
Boden befand, und den Kopf nach hinten zu werfen, so daß ihre Schultern tiefer waren
als die Füße, damit der Fänger sie an den Knöcheln packen und auffangen konnte.
Im Idealfall befand sich ihr Kopf in diesem Augenblick etwa fünfzehn Meter über
dem Netz, doch da die Frau des Zwergs eine Anfängerin war, ließ sie das Trapez los,
bevor ihr Körper ganz gerade war. Der Fänger mußte sich nach ihr strecken, erwischte
sie nur an einem Fuß und noch dazu in einem unglücklichen Winkel. Deepa schrie so
laut, als sie sich das Hüftgelenk ausrenkte, daß der Fänger es für das beste hielt,
sie ins Netz fallen zu lassen. Dr. Daruwalla hatte nie einen ungeschickteren Sturz
gesehen.
Deepa, eine zierliche,
dunkelhäutige Frau aus dem ländlichen [24] Maharashtra, mochte
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