Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Bekannter in Bombay. Farrokh und Vinod
kannten sich schon sehr lange, denn der Zwerg stellte die engste Verbindung des
Doktors zum Zirkus dar – Vinod war der erste Zwerg, den Dr. Daruwalla um Blut gebeten
hatte. Sie waren sich im Untersuchungszimmer des Arztes in der Klinik für Verkrüppelte
Kinder begegnet. Ihre Unterredung fiel mit dem religiösen Feiertag Diwali zusammen,
anläßlich dessen der Great Blue Nile Circus ein Gastspiel auf dem Cross Maidan in
Bombay gab. Ein zwergwüchsiger Clown (Vinod) und seine normal gewachsene Frau (Deepa)
hatten ihren zwergwüchsigen Sohn (Shivaji) in die Klinik gebracht, um dessen Ohren
untersuchen zu lassen. Vinod wäre nie auf die Idee gekommen, daß man sich in der
Klinik für Verkrüppelte Kinder ausgerechnet mit Ohren beschäftigt – Ohren sind nicht
unbedingt ein Fall für die Orthopädie –, war aber zu Recht davon ausgegangen, daß
alle Zwerge Krüppel sind.
    Trotzdem gelang
es dem Doktor nicht, Vinod davon zu überzeugen, daß sowohl sein Zwergwuchs als auch
der seines Sohnes genetische Ursachen hatte. Daß Vinod von normalen Eltern abstammte
und trotzdem ein Zwerg war, hatte – nach Vinods Ansicht – nichts mit einer Mutation
zu tun. Er glaubte fest an die Geschichte, die ihm seine Mutter erzählt hatte: Am
Morgen, [20]  nachdem sie schwanger geworden war, hatte sie aus dem Fenster geschaut
und als erstes Lebewesen einen Zwerg gesehen. Die Tatsache, daß Vinods Frau Deepa
eine normal gewachsene Frau war – Vinod zufolge »schon fast schön« –, konnte nicht
verhindern, daß Vinods Sohn Shivaji ein Zwerg war. Das war jedoch – nach Vinods
Ansicht – nicht auf ein dominantes Gen zurückzuführen, sondern auf die unglückliche
Tatsache, daß Deepa seine Warnung vergessen hatte. Am Morgen nach Deepas Empfängnis
war das erste Lebewesen, das sie ansah, Vinod, und das war (nach Vinods Ansicht) der Grund,
warum Shivaji ebenfalls ein Zwerg war. Vinod hatte Deepa eingeschärft, ihn am Morgen
ja nicht anzusehen, aber sie hatte es vergessen.
    Daß Deepa »schon
fast schön« (oder zumindest eine normal gewachsene Frau) war und trotzdem einen
Zwerg geheiratet hatte, kam daher, daß sie keine Mitgift mitbrachte. Ihre Mutter
hatte sie an den Great Blue Nile Circus verkauft. Und da Deepa am Trapez noch eine
blutige Anfängerin war, verdiente sie fast nichts. »Nur ein Zwerg hätte sie geheiratet«,
meinte Vinod.
    Zu ihrem Sohn Shivaji
ist anzumerken, daß bei chondrodystrophen Zwergen periodisch auftretende und chronische
Mittelohrentzündungen bis zum Alter von acht oder zehn Jahren an der Tagesordnung
sind. Werden sie nicht behandelt, führen sie häufig zu erheblichem Gehörverlust.
Vinod selbst war halb taub. Aber es gelang Farrokh einfach nicht, Vinod anhand dieses
oder auch anderer Symptome klarzumachen, daß die bei ihm und Shivaji vorliegende
Form von Minderwuchs genetische Ursachen hatte. Dies belegten zum Beispiel seine
sogenannten Dreizackhände – die typisch gespreizten Stummelfinger. Dr. Daruwalla
wies Vinod auf seine kurzen, breiten Füße und seine leicht angewinkelten Ellbogen
hin, die sich nicht durchstrecken ließen. Er versuchte ihn zu dem Eingeständnis
zu bewegen, daß seine Fingerspitzen, genau wie bei seinem Sohn, nur bis zu den Hüften
reichten, daß sein Unterbauch [21]  vorstand und die Wirbelsäule – selbst wenn er auf
dem Rücken lag – die typische Vorwärtswölbung aufwies. Diese lumbale Lordose sowie
das gekippte Becken sind der Grund, warum alle Zwerge watscheln.
    »Zwerge watscheln
eben von Natur aus«, entgegnete Vinod, der starr an seinem Credo festhielt und absolut
nicht dazu zu bewegen war, sich auch nur von einem einzigen Röhrchen Blut zu trennen.
Er saß auf dem Untersuchungstisch und schüttelte über Dr. Daruwallas Zwergwuchstheorie
den Kopf.
    Vinod hatte, wie
alle chondrodystrophen Zwerge, einen unverhältnismäßig großen Kopf. Sein Gesicht
wirkte auf Anhieb nicht unbedingt intelligent, es sei denn, man setzt eine vorgewölbte
hohe Stirn von vornherein mit großer Geisteskraft gleich; die mittlere Gesichtspartie
wich, ebenfalls typisch für diese Form von Minderwuchs, zurück. Vinods Backen waren
abgeflacht, und er hatte eine Sattelnase mit aufgestülpter Spitze; der Unterkiefer
stand so weit vor, daß einem Vinods Kinn recht markant vorkam, und obwohl sein vorgereckter
Kopf ihn eher dümmlich erscheinen ließ, verriet sein ganzes Auftreten eine sehr
zielstrebige Persönlichkeit. Seine aggressive Erscheinung wurde

Weitere Kostenlose Bücher