Zirkuskind
denn, Dr. Daruwalla hätte ausschließlich
sehr reiche Leute in Krankenhäusern wie Jaslok behandelt. In der Klinik für Verkrüppelte
Kinder beschränkte sich der Doktor darauf, die Funktionsfähigkeit der Gliedmaßen
so schnell wie möglich wiederherzustellen, was häufig auf eine Amputation und eine
Prothese statt wirklicher Heilung hinauslief. Für Dr. Daruwalla war ein Fistelgang,
aus dem Eiter sickerte, nicht das Schlimmste; in Indien ließ er den Eiter sickern.
Der Doktor war ein
überzeugter Anglikaner, der die Katholiken mit Mißtrauen und Ehrfurcht zugleich
betrachtete. Wie die meisten konvertierten Christen ließ sich Dr. Daruwalla vom
Weihnachtstrubel anstecken, der in Bombay nicht mit so viel kommerziellem Pomp und
penetranter Betriebsamkeit einhergeht wie in den christlichen Ländern. Dieses Jahr
beging Dr. Daruwalla Weihnachten mit maßvoller Fröhlichkeit: Am Heiligabend hatte
er eine katholische Messe besucht, am Weihnachtstag einen anglikanischen Gottesdienst.
Er ging nur an Festtagen in die Kirche, aber auch das nicht regelmäßig. Sein doppelter
Kirchgang war eine unerklärliche Überdosis, so daß sich seine Frau Sorgen um ihn
machte.
Farrokhs Frau war
Wienerin, mit Mädchennamen Julia Zilk – nicht verwandt mit dem Bürgermeister gleichen
Namens. Das ehemalige Fräulein Zilk stammte aus einer vornehmen und einflußreichen
katholischen Familie. Während der seltenen Aufenthalte der Daruwallas in Bombay
hatten die Kinder Jesuitenschulen besucht; nicht etwa, weil sie katholisch erzogen
wurden, sondern weil Farrokh die »familiären Verbindungen« zu diesen Schulen aufrechterhalten
wollte, die nicht [32] jedermann zugänglich waren. Dr. Daruwallas Kinder waren konfirmierte
Anglikaner, die in Toronto auf eine anglikanische Schule gingen.
Doch obwohl Farrokh
den protestantischen Glauben vorzog, lud er am zweiten Weihnachtsfeiertag lieber
seine wenigen jesuitischen Bekannten ein, weil sie ungleich lebhaftere Gesprächspartner
waren als die Anglikaner, die Dr. Daruwalla in Bombay kannte. Weihnachten war an
sich eine fröhliche Zeit, in der der Doktor stets vor Wohlwollen überquoll. Zur
Weihnachtszeit konnte er beinahe vergessen, daß die Begeisterung, mit der er vor
zwanzig Jahren zum Christentum übergetreten war, allmählich abflaute.
Dr. Daruwalla dachte
nicht weiter über den Geier über dem Golfplatz des Duckworth Club nach. Die einzige
Wolke an seinem Horizont war die Frage, wie er Inspector Dhar die beunruhigende
Neuigkeit beibringen sollte, die für den lieben Jungen keineswegs eine frohe Botschaft
sein würde. Für ihn selbst war die Woche bis zu dieser unvorhersehbaren Hiobsbotschaft
gar nicht so schlecht verlaufen.
Es war die Woche
zwischen Weihnachten und Neujahr. In Bombay war es ungewöhnlich kühl und trocken.
Die Zahl der aktiven Mitglieder des Duckworth Sports Club war bei sechstausend angekommen.
Weil für neue Mitglieder eine Wartezeit von 22 Jahren bestand, war diese Mitgliederzahl
nur langsam erreicht worden. An diesem Morgen fand eine Sitzung des Mitgliederausschusses
statt, bei der der distinguierte Dr. Daruwalla den Ehrenvorsitz führte und in der
darüber entschieden werden sollte, ob Mitglied Nummer sechstausend in besonderer
Form von seinem außergewöhnlichen Status in Kenntnis gesetzt werden sollte. Die
Vorschläge reichten von einer Ehrentafel im Billardzimmer (wo zwischen den Trophäen
ansehnliche Lücken klafften) über einen kleinen Empfang im Ladies’ Garden (wo die
Bougainvilleenblüten von einer noch nicht diagnostizierten [33] Pflanzenkrankheit
befallen waren) bis hin zu einer schlichten, maschinegeschriebenen Meldung, die
neben der Liste der Vorläufig Ausgewählten Mitglieder ausgehängt werden sollte.
Farrokh hatte sich
oft gegen die Überschrift dieser Liste gewehrt, die in der Eingangshalle des Duckworth
Club in einem verschlossenen Glaskästchen hing. Er beklagte sich darüber, daß »vorläufig
ausgewählt« nichts anderes bedeutete als »nominiert« – sie wurden nämlich keineswegs
ausgewählt –, aber diese Bezeichnung war seit der Gründung des Clubs vor einhundertdreißig
Jahren eben üblich. Neben der kurzen Namensliste hockte eine Spinne. Sie hockte
schon so lange dort, daß sie vermutlich tot war – oder vielleicht strebte die Spinne
ebenfalls die feste Mitgliedschaft an. Dieser Scherz stammte von Dr. Daruwalla,
war aber schon so alt, daß das Gerücht ging, sämtliche sechstausend Mitglieder hätten
ihn bereits
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