Zirkuskind
Frauen und Kinder, die alt genug waren, um genau aufzupassen. Das spärliche,
verblassende Sonnenlicht hatte etwas Sanftes, ja geradezu Entrücktes an sich. Staubpartikel
sah man jetzt keine mehr. Die Fliegen waren anscheinend zusammen mit der grellen
Sonne verschwunden, und für die Moskitos war es noch zu früh. Die Sechs-Uhr-dreißig-Vorstellung
war immer gerappelt voll.
Die erste Nummer
bestritt die Schlangenfrau, ein sogenanntes Mädchen ohne Knochen namens Laxmi (so
heißt die Göttin des Reichtums). Sie war eine wunderschöne Kontorsionistin – keinerlei
Anzeichen von Rachitis. Laxmi war erst vierzehn, aber ihr scharf geschnittenes Gesicht
ließ sie älter erscheinen. Sie trug einen leuchtend orangefarbenen Bikini mit gelben
und roten Pailletten, die im zuckenden Scheinwerferlicht glitzerten; sie sah aus
wie ein Fisch, dessen Schuppen ein aus tiefen Wassern emporscheinendes Licht reflektierten.
Im Zelt war es gerade so dunkel, daß die wechselnden Farben des Stroboskops gut
zur Geltung kamen, während gleichzeitig die abendliche Sonne das Zelt noch so weit
erhellte, daß man die Gesichter der Kinder im Publikum sehen konnte. Wer behauptete,
Zirkusse seien nur etwas für Kinder, hatte nur halb recht, dachte Dr. Daruwalla. [164] Der Zirkus war auch etwas für Erwachsene, die es genossen, Kinder so verzaubert
zu sehen.
Warum bringe ich
das nicht fertig? fragte sich der Doktor, während er über den schlichten Glanz des
Schlangenmädchens namens Laxmi nachdachte – und über den verkrüppelten Jungen im
Victoria Terminus, wo Dr. Daruwallas Phantasie hängenblieb, gleich nachdem sie in
Schwung gekommen war. Statt etwas so Reines und Faszinierendes zu schaffen wie den
Zirkus, hatte er sich Mord und Zerstörung zugewandt – verkörpert durch Inspector
Dhar.
Dr. Daruwallas unglückliche
Miene, die der alte Mr. Sethna falsch deutete, drückte schlicht Farrokhs tiefe Enttäuschung
über sich selbst aus. Während der alte Parse dem Doktor, der einsam und verzweifelt
im Ladies’ Garden saß, mitfühlend zunickte, gestattete er sich eine seltene Vertraulichkeit
einem vorbeieilenden Kellner gegenüber.
»Ich bin froh, daß
ich nicht die Ratte bin, an die er denkt«, sagte Mr. Sethna.
Es war nicht der Curry
Natürlich
krankte Eines
Tages fahren wir nach Indien, Liebling an viel mehr als nur an Danny Mills’ Alkoholismus oder der Tatsache,
daß es sich um ein plumpes Plagiat von Opfer einer großen Liebe handelte. Der Film litt nicht nur
unter Gordon Hathaways drastischen Einriffen in Dannys »Original«-Drehbuch und den
Hämorrhoiden und dem Pilzbefall des Regisseurs. Ein weiteres Manko war die Tatsache,
daß die Schauspielerin, die die sterbende, letztlich aber doch überlebende Ehefrau
mimte, diese talentlose Schönheit namens Veronica Rose, sämtliche Klatschspalten
füllte. Ihre Freunde und Kollegen nannten sie Vera, doch geboren war sie in Brooklyn
unter dem Namen [165] Hermione Rosen (als Tochter der »trübseligen Fotze«); außerdem
war sie Gordon Hathaways Nichte. Eine kleine Welt, wie Farrokh noch feststellen
sollte.
Der Produzent, Harold
Rosen, sollte seine Tochter eines Tages so unerträglich geschmacklos finden wie
der Rest der Welt zumeist auf Anhieb; allerdings ließ sich Harold von seiner Frau
(Gordon Hathaway’s »trübseligen Fotze« von Schwester) ebenso leicht tyrannisieren
wie Gordon. Harold teilte die Zuversicht seiner Frau, die glaubte, Hermione Rosen
würde es, dank ihrer Verwandlung in Veronica Rose, eines Tages zum Star bringen.
Veras Mangel an Talent und Intelligenz sollte sich als zu großes Hindernis auf dem
Weg zu diesem Ziel erweisen – zumal er bei ihr mit einem zwanghaften Bedürfnis einherging,
ihre Brüste zu entblößen, das selbst Lady Duckworth getadelt hätte.
Doch im Sommer 1949
kursierte im Duckworth Club das Gerücht, daß Vera bald einen Riesenerfolg haben
würde. Welche Ahnung hatte man in Bombay schon von Hollywood? Lowji Daruwalla wußte
lediglich, daß die Rolle der sterbenden Frau, die schließlich doch gerettet wurde,
mit Vera besetzt worden war. Farrokh sollte eine Weile brauchen, um herauszufinden,
daß Danny Mills dagegen Einspruch erhoben hatte – bis Vera ihn verführte und dazu
brachte, sich einzubilden, daß er in sie verliebt sei. Danach trottete er hinter
ihr drein wie ein braves Hündchen. Danny glaubte, die enorme Belastung, die diese
Rolle darstellte, habe Veras kurze Leidenschaft für ihn abgekühlt – Vera hatte ihr
eigenes Zimmer im Taj
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