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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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die Ursache für den Haß in dessen Augen kannte; der Butler bildete sich ein,
das Filmpack von damals, an das der Doktor dachte, zu kennen. Zweifel an sich selbst
oder Haß auf sich selbst kannte Mr. Sethna allerdings nicht. Und deshalb hätte sich
der alte Parse auch nie vorstellen können, daß Dr. Daruwalla über sich selbst nachdachte.
    Tatsächlich nahm
sich Farrokh selbst ins Gebet, weil er diesen verkrüppelten Jungen, der am Victoria
Terminus angekommen war, einfach dort hatte stehenlassen. So viele in Bombay angesiedelte
Geschichten begannen am Victoria-Bahnhof, aber Dr. Daruwalla war außerstande gewesen,
sich für dieses verlassene Kind eine Geschichte auszudenken. Er fragte sich noch
immer, was mit dem Jungen nach seiner Ankunft in Bombay hätte geschehen können.
Alles und jedes hätte geschehen können; statt dessen hatte sich der Drehbuchautor
mit Inspector Dhar begnügt, dessen rowdyhafte Sprache sowenig originell war wie
der ganze Bursche.
    Dr. Daruwalla versuchte
sich damit zu retten, daß er sich eine Geschichte ausdachte, so rein und unschuldig
wie seine Lieblingsnummer im Great Royal Circus, aber es fiel ihm keine ein, die
auch nur annähernd so gut war wie die einfachsten sogenannten Tricks, die er so
liebte. Es fiel ihm nicht einmal eine Geschichte ein, die so gut war wie die tagtägliche
Zirkusroutine. Da gab es im Verlauf des langen Tages, der um sechs Uhr morgens mit
einer Tasse Tee begann, keinen Leerlauf. Die auftretenden Kinder machten wie alle
anderen Artisten bis neun oder zehn Uhr ihre Kraft- und Gelenkigkeitsübungen und
trainierten für ihre neuen Nummern. Dann nahmen sie ein leichtes Frühstück zu sich
und säuberten ihre Zelte. Wenn es heiß wurde, nähten sie Pailletten an ihre Trikots
oder wandten sich anderen häuslichen Tätigkeiten zu, die wenig Bewegung [162]  erforderten.
Nach 10 Uhr vormittags wurde nicht mehr mit den Tieren gearbeitet; für die Raubkatzen
war es zu heiß, und die Pferde und Elefanten wirbelten zuviel Staub auf.
    Während der Mittagszeit
hingen die Tiger und Löwen in ihren Käfigen herum; sie steckten ihre Schwänze und
Pfoten und sogar die Ohren zwischen den Gitterstäben hindurch, als hofften sie,
damit ein Lüftchen anzulocken; nur ihre Schwänze bewegten sich zum lauten Konzert
der Fliegen. Die Pferde standen lieber – das war kühler, als wenn sie sich hinlegten –, und zwei Jungen wischten den Elefanten mit einem zerrissenen Stoffsack, der einst
Zwiebeln oder Kartoffeln enthalten hatte, abwechselnd den Staub ab. Ein dritter
Junge spritzte mit einem Schlauch den Boden des Spielzelts naß; doch in der Mittagshitze
blieb der Staub nie lange feucht. Die allgemeine Schlappheit steckte sogar die Schimpansen
an, die aufhörten, sich in ihren Käfigen herumzuschwingen; ab und zu kreischten
sie noch – und hopsten ansonsten umher wie üblich. Aber wenn ein Hund auch nur winselte,
geschweige denn bellte, bekam er einen Tritt.
    Um zwölf Uhr gab
es für die Dompteure und Artisten ein ausgiebiges Mittagessen. Dann schliefen alle
bis zum frühen Nachmittag – die erste Vorstellung begann immer erst nach drei Uhr.
Die Hitze war nach wie vor erdrückend, und die Staubpartikel stiegen auf und glitzerten
wie Sterne im Sonnenlicht, das schräg durch die Schlitze im Spielzelt einfiel. In
den grellen Lichtstrahlen schwirrten die Staubteilchen so lebhaft umher wie ein
Schwarm Fliegen. In den Pausen zwischen den einzelnen Musiknummern ließen die Musiker
einen feuchten Lappen herumgehen, mit dem sie ihre Blechblasinstrumente und, noch
häufiger, ihre Schläfen abwischten.
    Das Publikum bei
den Drei-Uhr-dreißig-Vorstellungen war normalerweise dürftig. Es bestand aus einer
eigenartigen Mischung von älteren Leuten, die nicht mehr den ganzen Tag [163]  arbeiteten
und noch nicht schulreifen Kindern. Für beide Gruppen galt, daß sie die Kunststücke
der Artisten und der Tiere mit unterdurchschnittlicher Aufmerksamkeit verfolgten,
als würden die drückende Hitze und der Staub ihre beschränkte Konzentrationsfähigkeit
noch reduzieren. In all den Jahren war Dr. Daruwalla nie aufgefallen, daß man sich
bei der Drei-Uhr-dreißig-Vorstellung weniger Mühe gegeben hätte als sonst; die Artisten
und Dompteure und sogar die Tiere arbeiteten so zuverlässig, wie die jeweilige Nummer
es erforderte. Es war das Publikum, das nicht ganz auf der Höhe war.
    Aus diesem Grund
bevorzugte Farrokh die Vorstellung am frühen Abend. Da kamen ganze Familien – junge
Arbeiter,

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