Zirkuskind
Indien
hinauszuschaffen. Auch deswegen schämte sich Dr. Daruwalla.
Vinod schien zu
spüren, wann Dr. Daruwalla ein offenes Ohr für gute Werke hatte. Der Zwerg dachte
dabei an seine eigenen wohltätigen Unternehmungen. Vinod war schamlos, wenn es darum
ging, die Unterstützung des Doktors für sein dringlichstes Anliegen zu gewinnen.
Vinod und Deepa
hatten es sich zur Aufgabe gemacht, herumstreunende Kinder aus den Slums von Bombay
zu retten, [207] kurz: Der Zwerg und seine Frau rekrutierten Straßenkinder für den
Zirkus. Sie hielten Ausschau nach akrobatisch veranlagten kleinen Bettlern – Kindern
mit sichtlich guter Koordinationsfähigkeit –, und Vinod gab sich alle erdenkliche
Mühe, die talentierten, verwahrlosten Kinder in angeseheneren Zirkussen unterzubringen
als dem Great Blue Nile. Deepa war es ein besonderes Anliegen, Kindprostituierte
oder solche, die es werden sollten, zu retten. Diese Mädchen waren für den Zirkus
selten zu gebrauchen. Soweit Dr. Daruwalla wußte, war der einzige Zirkus, der sich
bereitgefunden hatte, irgendwelche Entdeckungen von Vinod und Deepa aufzunehmen,
der Blue Nile, der alles andere als great war.
Farrokh verursachte
es beträchtliches Unbehagen, daß viele dieser Mädchen ursprünglich von Mr. Garg
entdeckt worden waren – das heißt, lange bevor Vinod und Deepa sie fanden. Mr. Garg
war der Besitzer und Manager des sogenannten Wetness Cabaret, in dem so etwas wie
verhüllte Anstößigkeit geboten wurde. Striplokale, von Sexshows ganz zu schweigen,
sind in Bombay nicht erlaubt, zumindest nicht mit derselben Freizügigkeit wie in
Europa und Nordamerika. In Indien gibt es keine Nacktdarbietungen, während »Nässe«
– also nasse, am Körper klebende und nahezu durchsichtige Kleidung – überall anzutreffen
ist und anzügliche Gesten das wichtigste Ausdrucksmittel der sogenannten exotischen
Tänzerinnen in schäbigen Unterhaltungsschuppen wie dem von Mr. Garg sind. Unter
diesen Schuppen, zu denen auch der Bombay Eros Palace zählte, war das Wetness Cabaret
der schlimmste. Trotzdem beharrten der Zwerg und seine Frau Dr. Daruwalla gegenüber
darauf, daß Mr. Garg der Barmherzige Samariter von Kamathipura sei. Inmitten des
Gassengewirrs mit seinen vielen Bordellen und des gesamten Rotlichtbezirks an der
Falkland und der Grant Road war das Wetness Cabaret ein sicherer Hort.
Farrokh vermutete,
daß das nur im Vergleich zu den [208] Bordellen galt. Egal, ob man Gargs Mädchen nun
als Stripperinnen oder »exotische Tänzerinnen« bezeichnete, die meisten von ihnen
waren jedenfalls keine Huren. Allerdings waren viele aus einem Bordell weggelaufen.
Dort stand die Jungfräulichkeit dieser Mädchen nur kurze Zeit hoch im Kurs – bis
die Bordellwirtin fand, daß sie jetzt alt genug seien, oder bis ein ausreichend
hohes Angebot kam. Doch wenn diese Mädchen dann zu Mr. Garg flüchteten, waren die
meisten viel zu jung für das, was das Wetness Cabaret zu bieten hatte. Paradoxerweise
waren sie alt genug für die Prostitution, aber viel zu jung, um als exotische Tänzerinnen
zu arbeiten.
Vinod zufolge wollten
die meisten Männer, die sich Frauen ansahen, daß diese auch wie Frauen aussahen.
Anscheinend waren das nicht dieselben Männer, die Sex mit minderjährigen Mädchen
haben wollten – und selbst diese Männer, behauptete Vinod, wollten sich die jungen
Mädchen gar nicht unbedingt ansehen. Deshalb konnte Mr. Garg sie im Wetness Cabaret
auch nicht gebrauchen, obwohl Farrokh sich vorstellte, daß Mr. Garg sich ihrer durchaus
– auf recht eigenwillige, unbeschreibliche Art – bedient hatte.
Dr. Daruwallas Dickens’sche
Theorie besagte, daß Mr. Garg wegen seiner äußeren Erscheinung pervers war. Beim Anblick dieses Mannes bekam Farrokh
eine Gänsehaut. Mr. Garg hatte bei Dr. Daruwalla einen erstaunlich lebhaften Eindruck
hinterlassen, wenn man bedenkt, daß er ihn nur einmal gesehen hatte; Vinod hatte
die zwei miteinander bekannt gemacht. Der unternehmungslustige Zwerg war nämlich
auch Gargs Chauffeur.
Mr. Garg war hochgewachsen
und hielt sich aufrecht wie ein Soldat, hatte aber jene bläßliche Gesichtsfarbe,
die Farrokh darauf zurückführte, daß er zuwenig Tageslicht abbekam. Gargs Gesichtshaut
hatte einen ungesunden, wächsernen Glanz und war ungewöhnlich straff, wie die Haut
eines Toten. Dieses leichenähnliche Aussehen wurde durch die unnatürliche [209] Schlaffheit
seiner Lippen noch betont. Sein Mund war stets leicht geöffnet, wie bei jemandem,
der
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