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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Wahrscheinlich gab es nicht einmal 80 000 Parsen, dachte Farrokh.
Aber in seinem eigenen kleinen Ausschnitt von Indien – in dem häßlichen Apartmenthaus
am Marine Drive – reduzierten sich diese untereinander [214]  zerstrittenen Millionen
in seinem Bewußtsein auf die von ihm so bezeichnete Liftfrage. Was den blöden Lift
anging, waren alle diese einander bekämpfenden Fraktionen einer Meinung. Nur mit
ihm waren sie nicht einer Meinung. Die Dienstboten sollten ruhig Treppen steigen.
    Farrokh hatte kürzlich
von einem Mann gelesen, der ermordet worden war, weil sein Schnurrbart eine »Beleidigung
für die Kaste« darstellte. Offenbar war der Schnurrbart gewichst und nach oben gezwirbelt
– dabei hätte er schlaff herabhängen sollen. Dr. Daruwalla kam zu dem Schluß, daß
Inspector Dhar Indien verlassen und nie mehr zurückkehren sollte. Und ich sollte
Indien auch verlassen und nie mehr zurückkehren! dachte er. Er half ein paar verkrüppelten
Kindern in Bombay – na wenn schon! Wie kam er dazu, sich überhaupt »komische« Filme
über ein Land wie dieses auszudenken? Er war kein Schriftsteller. Und wie kam er
dazu, Zwergen Blut abzunehmen? Er war auch kein Genetiker.
    So schloß Dr. Daruwalla
mit dem für ihn typischen Mangel an Selbstvertrauen die Tür zu seiner Wohnung auf,
wo ihn auch gleich die erwartete Musik empfing. Er hatte seiner geliebten Frau zu
spät gesagt, daß er seinen geliebten John Daruwalla zum Abendessen eingeladen hatte,
und dann hatte er beide warten lassen. Außerdem hatte er nicht den Mut aufgebracht,
Inspector Dhar die beunruhigende Nachricht zu überbringen.
    Farrokh hatte das
Gefühl, sich in einer von ihm selbst kreierten Zirkusnummer verheddert zu haben,
einem ärgerlichen, unentrinnbaren Zwang zu erliegen, Dinge hinauszuzögern. Er fühlte
sich an eine Nummer im Great Royal Circus erinnert. Anfangs hatte er sie als charmante
Verrücktheit empfunden, aber jetzt befürchtete er durchzudrehen, falls er sie je
noch einmal sehen sollte. Sie verkörperte einen derart bedeutungslosen, aber unbarmherzigen
Irrsinn, zumal auch die Begleitmusik aus ständigen Wiederholungen bestand; für Dr.
Daruwalla [215]  symbolisierte sie die geistesgestörte Monotonie, die jedem Menschen
von Zeit zu Zeit zu schaffen macht. Die Nummer hieß »Fahrradpyramide« und war ein
Beispiel für die Steigerung von etwas Einfachem ins schwachsinnige Extrem.
    Auf zwei Fahrrädern
saßen zwei sehr kräftig aussehende, korpulente Frauen, die hintereinander in der
Manege im Kreis fuhren. Nach und nach bestiegen immer mehr kräftige, dunkelhäutige
Frauen die Fahrräder auf unterschiedlichste Weise. Ein paar sprangen auf kleine
Trittstangen, die in den Naben der Vorder- und Hinterräder steckten; andere stiegen
auf die Lenker, auf denen sie unsicher schwankten; wieder andere wippten auf den
hinteren Schutzblechen. Und egal, wie viele Frauen auf die Fahrräder sprangen, die
zwei kräftigen Frauen unten strampelten weiter. Dann kamen kleine Mädchen in die
Manege gelaufen. Sie stiegen auf die Schultern der Frauen – auch auf die der sich
abmühenden robusten Fahrerinnen – und kletterten auf ihre Köpfe, bis zwei sich abquälende
Frauenpyramiden an den beiden Fahrrädern hingen, die ohne Unterlaß im Kreis fuhren.
    Dazu spielte ununterbrochen
eine aufpeitschende Musik, die an eine Stelle aus dem Cancan erinnerte, und unerbittlich
wiederholt wurde. Sämtliche dunkelhäutigen Artistinnen – die kräftigen älteren Frauen
wie auch die kleinen Mädchen – hatten zuviel Puder aufgelegt, was ihnen ein unwirklich
marionettenhaftes Aussehen verlieh. Sie trugen allesamt blaßrote Tutus, und sie
lächelten und lächelten, während sie immer und immer und immer wieder im Kreis fuhren.
Als der Doktor die Nummer zum letzten Mal gesehen hatte, dachte er, sie würde nie
enden.
    Vielleicht gibt
es im Leben eines jeden Menschen eine solche Fahrradpyramide, dachte Dr. Daruwalla.
Während er vor seiner Wohnungstür stehenblieb, hatte er das Gefühl, einen dementsprechenden
Tag hinter sich zu haben. Er konnte sich vorstellen, daß jeden Augenblick wieder
die Cancanmusik ertönen und er [216]  gleich von einem Dutzend dunkelhäutiger Mädchen
in blaßroten Tutus empfangen würde, die sich mit ihren weißen Gesichtern zu dem
irrwitzigen, unaufhörlichen Rhythmus im Kreis drehten.

[217]  7
    Dr. Daruwalla versteckt sich in seinem Schlafzimmer
    Da werden die Elefanten aber böse sein
    Die Vergangenheit
ist ein Labyrinth. Aber wo ist

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