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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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im Sitzen eingeschlafen ist, und seine Augenhöhlen waren dunkel und geschwollen,
als hätte sich darin Blut angesammelt. Noch schlimmer waren Mr. Gargs Augen, gelb
und glanzlos wie die eines Löwen – und ebenso unergründlich, dachte Dr. Daruwalla.
Aber am schlimmsten war die Narbe. Jemand hatte Mr. Garg Säure ins Gesicht geschüttet,
das er gerade noch zur Seite hatte drehen können; die Säure hatte ein Ohr zerfressen
und sich als Streifen den Kieferknochen entlang und seitlich am Hals hinunter eingebrannt,
wo die schmutzigrosafarbene Wunde unter seinem Hemdkragen verschwand. Nicht einmal
Vinod wußte, wer ihm die Säure ins Gesicht gespritzt hatte und warum.
    Von Dr. Daruwalla
brauchten Mr. Gargs Mädchen nur eins: Er sollte als Vertrauensarzt den Zirkussen
bestätigen, daß sie bei bester Gesundheit waren. Aber was konnte Farrokh über die
Gesundheit dieser Mädchen aus den Bordellen schon sagen? Einige von ihnen waren
dort geboren; bestimmte Anzeichen für ererbte Syphilis waren leicht zu erkennen.
Und heutzutage konnte der Doktor sie keinem Zirkus empfehlen, ohne einen Aids-Test
gemacht zu haben. Kaum ein Zirkus – nicht einmal der Great Blue Nile – nahm ein
Mädchen auf, das HIV-positiv war. Die
meisten hatten irgendwelche Geschlechtskrankheiten; zumindest mußten sie sich alle
einer Wurmkur unterziehen. Nur wenige wurden überhaupt aufgenommen, selbst beim
Great Blue Nile.
    Und was wurde aus
den Mädchen, wenn der Zirkus sie nicht haben wollte? (»Wir tun Gutes, indem wir
uns bemühen«, pflegte Vinod zu antworten.) Verkaufte Mr. Garg sie wieder an ein
Bordell oder wartete er ab, bis sie alt genug waren, um im Wetness Cabaret aufzutreten?
Farrokh war entsetzt, daß Mr. Garg nach den in Kamathipura herrschenden Maßstäben
als Wohltäter galt; doch soweit er wußte, lag nichts gegen ihn vor – [210]  zumindest
nichts außer der allgemein bekannten Tatsache, daß er die Polizei bestach, die nur
sehr selten Razzien im Wetness Cabaret durchführte.
    Der Doktor hatte
einmal erwogen, Mr. Garg als Figur in einem Inspector-Dhar-Film zu verwenden. In
die erste Fassung von Inspector Dhar und der Käfigmädchen-Killer hatte er eine Nebenrolle für Mr.
Garg eingebaut – er war ein Kinderschänder mit dem Spitznamen Säuremann. Doch dann
besann sich Farrokh eines Besseren. Mr. Garg war in Bombay zu bekannt. Die Sache
hätte juristische Konsequenzen haben können, und zudem hätte die Gefahr bestanden,
Vinod und Deepa zu kränken, und das wollte er auf gar keinen Fall. Auch wenn Garg
kein Barmherziger Samariter war, glaubte der Doktor dem Zwerg und seiner Frau, daß
sie es ernst meinten – für diese Kinder waren sie Heilige oder versuchten zumindest,
welche zu sein. Sie »taten Gutes, indem sie sich bemühten«, wie Vinod es ausgedrückt
hatte.
    Als sich Vinods
schmutzigweißer Ambassador dem Marine Drive näherte, gab der Doktor dem Gequengel
des Zwergs nach. »Also gut, einverstanden, ich untersuche sie«, sagte er zu Vinod.
»Wer ist es denn diesmal, und was hat sie für eine Vergangenheit?«
    »Sie ist Jungfrau«,
erklärte der Zwerg. »Deepa meint, daß sie ein beinahe knochenloses Mädchen ist –
eine zukünftige Schlangenfrau!«
    »Und wer sagt, daß
sie Jungfrau ist?« fragte der Doktor den Zwerg.
    »Sie sagt das«,
antwortete Vinod. »Garg hat Deepa erzählt, daß das Mädchen aus einem Bordell weggelaufen
ist, bevor jemand sie angerührt hat.«
    »Dann behauptet also Garg, daß sie Jungfrau ist?«
    »Vielleicht beinahe
eine Jungfrau – vielleicht fast«, antwortete der Zwerg. »Ich glaube, daß sie auch
mal eine Zwergin war«, [211]  fügte er hinzu. »Oder vielleicht ist sie eine Halbzwergin.
Ich glaube fast.«
    »Das ist nicht möglich,
Vinod«, sagte Dr. Daruwalla.
    Der Zwerg zuckte
die Achseln und lenkte den Ambassador so schwungvoll in einen Kreisverkehr, daß
mehrere Tennisbälle über Farrokhs Füße rollten und unter Vinods erhöhtem Fahrersitz
die Squashschlägergriffe klapperten. Der Zwerg hatte Dr. Daruwalla erklärt, daß
die Griffe von Federballschlägern zu wenig stabil seien – sie zerbrachen – und die
von Tennisschlägern zu schwer, als daß Vinod rasch genug damit hätte zuschlagen
können. Die Griffe von Squashschlägern waren genau richtig.
    Nur weil Farrokh
wußte, wo sich das Ding befand, konnte er undeutlich die eigenartige Reklametafel
auf dem Boot ausmachen, das ein Stück vor der Küste im Arabischen Meer an einer
Mooringboje lag; es hüpfte auf der Wasseroberfläche

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