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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Dr. Daruwalla davon überzeugt war, daß ihm Aspirin zuverlässigere Linderung
verschaffen würde.
    Mr. Sethna war der
Gedanke gekommen, daß wahrscheinlich Dr. Daruwallas alte Verbindung zu Vinod dafür
verantwortlich war, daß der Doktor nicht selbst Auto fuhr; es war Jahre her, seit
Farrokh in Bombay überhaupt ein Auto gehabt hatte. Der Ruf des Zwergs als Dhars
Chauffeur trug dazu bei, daß die Tatsache, daß Vinod auch Dr. Daruwalla chauffierte,
weitgehend unbemerkt blieb. Es erschreckte Mr. Sethna, wie sehr sich beide, der
Doktor und der Zwerg, der Gegenwart des anderen bewußt waren – selbst während der
Zwerg sein Auto mit Squashschlägergriffen und alten Tennisbällen belud, selbst während
der Doktor weiterhin im Ladies’ Garden saß. Es war, als wüßte Farrokh stets, daß
Vinod verfügbar war – und als würde der Zwerg nur auf ihn warten. Na ja, auf ihn
oder auf Dhar.
    Mr. Sethna überlegte
weiter, daß Dr. Daruwalla wohl die Absicht hatte, den Tisch vom Mittag für den Abend
zu behalten. Vielleicht erwartete er ja Gäste zum Abendessen und hielt das für die
einfachste Art, den Tisch besetzt zu halten. Doch als sich der alte Butler bei Dr.
Daruwalla nach der Anzahl der Gedecke erkundigte, erfuhr er, daß der Doktor zum
»Supper« nach Hause fahren wollte. Er erhob sich auch sofort, als wäre er aus einem
Traum erwacht, und brach auf.
    Mr. Sethna beobachtete
und belauschte ihn, als er vom Telefon in der Eingangshalle aus seine Frau anrief.
    »Nein, Liebchen«,
sagte Dr. Daruwalla. »Ich habe es ihm nicht gesagt. Es ergab sich einfach keine
günstige Gelegenheit.« Dann lauschte Mr. Sethna Dr. Daruwallas Bericht über den
Mord an Mr. Lal. Demnach war es also Mord! dachte Mr. Sethna. Mit seinem eigenen
Putter erschlagen! Und als er die Sache mit dem Zwei-Rupien-Schein in Mr. Lals Mund
mitbekam und vor allem die hochinteressante Drohung, die sich auf [203]  Inspector Dhar
bezog – MEHR MITGLIEDER STERBEN, WENN DHAR MITGLIED BLEIBT  –, hatte Mr. Sethna das Gefühl,
daß seine Lauschbemühungen, zumindest für diesen Tag, belohnt worden waren.
    Dann geschah etwas
nur am Rande Bemerkenswertes. Dr. Daruwalla hängte den Hörer auf und strebte dem
Ausgang zu, ohne zu schauen, wohin er ging, und prompt prallte er mit der zweiten
Mrs. Dogar zusammen. Der Zusammenstoß war so heftig, daß Mr. Sethna schadenfroh
erwartete, daß die vulgäre Frau zu Boden gehen würde. Statt dessen war Farrokh derjenige,
der hinfiel. Noch erstaunlicher war, daß Mrs. Dogar durch den Aufprall rückwärts
auf Mr. Dogar geschubst wurde, so daß dieser auch noch hinfiel. Was für ein Esel,
daß er diese jüngere, stärkere Frau geheiratet hat! dachte Mr. Sethna. Dann erfolgte
das übliche Verbeugen und Sichentschuldigen, und jeder versicherte jedem, daß mit
ihm oder ihr alles in bester Ordnung sei. Manchmal fand Mr. Sethna die absurden
Auswüchse guter Manieren, die im Duckworth Club in einem solchen Übermaß an den
Tag gelegt wurden, doch belusti- gend.
    So entging Farrokh
endlich dem wachsamen Blick des alten Butlers. Doch während er darauf wartete, daß
Vinod den Wagen holte, berührte Dr. Daruwalla – von Mr. Sethna unbeobachtet – die
schmerzende Stelle an seinem Brustkorb, an der sich bestimmt ein blauer Fleck bilden
würde, und wunderte sich über die Härte und Standfestigkeit der zweiten Mrs. Dogar.
Ebensogut hätte er gegen eine Steinmauer rennen können!
    Mrs. Dogar war ausreichend
maskulin, um ein hijra zu sein, fuhr es dem Doktor durch den Kopf, natürlich keine hijra -Prostituierte, sondern ein ganz
gewöhnlicher Eunuchen-Transvestit. In diesem Fall hatte sie mit den Blicken, die
sie Dhar zugeworfen hatte, vielleicht gar nicht bezweckt, ihn zu verführen, sondern
wollte ihn womöglich kastrieren!
    [204]  Farrokh schämte
sich, daß er schon wieder wie ein Drehbuchautor dachte. Wie viele Kingfisher habe
ich getrunken? überlegte er; es beruhigte ihn, das Bier für seine weit hergeholten
Phantasien verantwortlich zu machen. In Wirklichkeit wußte er nichts über Mrs. Dogar
und ihre Herkunft, und hijras spielten in der indischen Gesellschaft eine ausgesprochen untergeordnete Rolle.
Die meisten von ihnen gehörten der Unterschicht an; und wer immer die zweite Mrs.
Dogar war, sie gehörte zur Oberschicht. Und Mr. Dogar kam – auch wenn er Farrokhs
Ansicht nach ein dummer alter Knacker war – aus Malabar Hill. Er stammte aus einer
alten, reichen Familie – stinkreich. Und so dumm war Mr. Dogar auch

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