Zirkuskind
auf und ab. Heute abend wurden
wieder TIKTOK
TISSUES angepriesen.
Und die Metallschilder
an den Laternenmasten versprachen, wie jeden Abend, eine gute Fahrt mit APOLLO-REIFEN . Der Berufsverkehr auf dem Marine
Drive hatte längst nachgelassen, und die Lichter in seiner Wohnung verrieten dem
Doktor, daß Dhar bereits eingetroffen war; der Balkon war beleuchtet, aber Julia
saß nie allein auf dem Balkon. Wahrscheinlich hatten sich die beiden den Sonnenuntergang
angesehen, dachte der Doktor; zugleich war ihm bewußt, daß die Sonne schon lange
untergegangen war. Sie werden mir böse sein, alle beide, dachte Farrokh.
Er versprach dem
Zwerg, das »beinahe knochenlose« Mädchen am nächsten Morgen zu untersuchen – die
Beinahe-Jungfrau, hätte er beinahe gesagt. Die Halbzwergin oder ehemalige Zwergin.
Mr. Gargs Mädchen! dachte er grimmig.
In der kahlen Eingangshalle
seines Apartmenthauses hatte Dr. Daruwalla einen Augenblick lang den Eindruck, er
könnte [212] sich ebensogut irgendwo anders auf der Welt befinden. Doch als die Lifttür
aufging, wurde er von einem vertrauten Schild begrüßt, das er zutiefst verabscheute.
DEM DIENSTPERSONAL IST ES VERBOTEN
– AUSSER IN BEGLEITUNG VON KINDERN –
DEN AUFZUG ZU BENUTZEN
Beim Anblick
dieses Schildes überfiel ihn ein lähmendes Gefühl der Unzulänglichkeit. Es war ein
Bestandteil der Hackordnung in der indischen Gesellschaft, ein Symbol dafür, daß
Diskriminierung, die es auf der ganzen Welt gab, hier nicht nur akzeptiert, sondern
sogar verherrlicht wurde – Lowji Daruwallas Überzeugung zufolge ein höchst ärgerliches,
für Indien typisches Merkmal, auch wenn es vorwiegend ein Erbe aus der Kolonialzeit
war.
Farrokh hatte die
Hausbewohnergemeinschaft zu überreden versucht, das anstößige Schild zu entfernen,
aber die Vorschriften für das Dienstpersonal waren unumstößlich. Dr. Daruwalla war
der einzige Bewohner des Gebäudes, der es nicht befürwortete, Dienstboten zur Benutzung
der Treppe zu zwingen. Außerdem setzte sich die Hausbewohnergemeinschaft über Farrokhs
Meinung mit der Begründung hinweg, er sei schließlich ein »nichtresidenter« Inder,
also einer, der nicht ständig hier wohnt. Während sich der alte Lowji über die strittige
Frage der Liftbenutzung bis aufs Blut gezankt hätte, betrachtete Dr. Daruwalla junior
seine gescheiterten Vorstöße bei der Hausbewohnergemeinschaft voller Selbstverachtung
als typisch für seine politische Unfähigkeit und dafür, daß er immer und überall
fehl am Platz war.
Als er aus dem Aufzug
trat, sagte er sich: Ich funktioniere nicht als Inder. Neulich hatte sich im Duckworth
Club jemand darüber empört, daß in Neu-Delhi ein Kandidat für ein [213] politisches
Amt eine Kampagne gestartet hatte, in der es »gezielt um die Kuhfrage« ging. Dr.
Daruwalla war nicht in der Lage gewesen, dazu Stellung zu nehmen, weil er nicht
genau wußte, worum es sich bei der Kuhfrage handelte. Er wußte, daß sich einzelne
Gruppierungen für den Schutz der Kühe stark machten, und vermutete, daß sie der
Bewegung zur Wiederbelebung des Hinduismus angehörten, so wie diese chauvinistischen
heiligen Männer, die sich als Reinkarnationen der Götter ausgaben – und auch wie
Götter verehrt zu werden verlangten. Er wußte, daß es zwischen Hindus und Muslimen
noch immer Kämpfe um die Babar-Moschee gab – das seinem ersten Inspector-Dhar-Film
zugrunde liegende Thema, das er damals so komisch gefunden hatte. Inzwischen waren
Tausende von Ziegelsteinen geweiht und mit der Aufschrift SHRI RAMA – »verehrter Rama« – versehen worden,
und keine siebzig Meter von der Moschee entfernt hatte man das Fundament für einen
Ramatempel gelegt. Nicht einmal Dr. Daruwalla konnte sich vorstellen, daß das Ergebnis
der vierzigjährigen Fehde um die Babar-Moschee »komisch« sein würde.
Da war es wieder,
dieses erbärmliche Gefühl, nicht hierherzugehören. Er wußte, daß es extremistische
Sikhs gab, aber persönlich kannte er keinen. Im Duckworth Club verkehrte er ausgesprochen
freundschaftlich mit dem Sikh Mr. Bakshi – einem Romanautor und glänzenden Gesprächspartner,
solange es um klassische amerikanische Filme ging –, doch über terroristische Sikhs
hatten sie sich nie unterhalten. Farrokh wußte von den Shiv Sena und den Dalit Panthers
und den Tamil Tigers, aber aus eigener Erfahrung wußte er nichts. In Indien gab
es mehr als 600 Millionen Hindus; es gab 100 Millionen Muslime und mehrere Millionen
Sikhs und Christen.
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