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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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zusammen und steckte das Beweisstück
wieder in die Tasche. »Also, verstehen Sie?« fragte er.
    »Was meinen Sie
damit?« wollte Farrokh wissen.
    »Na ja, genau da
liegt das Problem – offensichtlich!« meinte Dr. Aziz.
    Farrokh versuchte
noch immer dahinterzukommen, wie sich Dr. Dev bei einer Koloskopie Aids geholt haben
konnte. Unterdessen war Dr. Aziz zu dem Schluß gelangt, daß Aids bei Prostituierten
unmittelbar durch die im Kamasutra erteilten schlechten Ratschläge verursacht wurde. (Farrokh bezweifelte,
daß ein Großteil der Prostituierten überhaupt lesen konnte.) Das war ein weiteres
Beispiel für die Hunde im ersten Stock – für ihr irrationales Gebell. Dr. Daruwalla
lächelte nervös auf dem ganzen Weg zu der schmalen Seitenstraße, in der Urologen-Aziz
seinen Wagen geparkt hatte.
    Es gab ein kurzes
Hin und Her, weil Vinods Ambassador die Gasse kurzfristig blockierte, aber wenig
später fuhr Dr. Aziz los. Farrokh wartete, bis der Zwerg seinen Wagen gewendet hatte.
Es war eine extrem schmale Straße – wegen der Nähe zum Meer voller Salzgeruch und
so warm und dampfig wie ein verstopftes Abflußrohr. Sie diente den Bettlern, die
regelmäßig die kleinen Strandhotels am Marine Drive aufsuchten, als [239]  Zufluchtsort.
Dr. Daruwalla vermutete, daß sich diese Bettler besonders für arabische Touristen
interessierten, weil diese in dem Ruf standen, besonders großzügig zu sein. Aber
der Bettler, der plötzlich aus der Gasse auftauchte, gehörte nicht zu dieser Sorte.
    Es war ein stark
hinkender Junge, den man gelegentlich an der Chowpatty-Beach Kopfstände machen sehen
konnte. Der Doktor wußte, daß dieses Kunststück für Vinod und Deepa nicht vielversprechend
genug war, um dem Bengel ein Zuhause im Zirkus anzubieten. Der Junge hatte am Strand
geschlafen – sein Haar war sandverklebt –, und die ersten Sonnenstrahlen hatten
ihn in die Gasse getrieben, wo er wohl noch ein paar Stunden schlafen wollte. Die
zwei Autos hatten vermutlich seine Aufmerksamkeit geweckt. Als Vinod im Ambassador
rückwärts in die Gasse stieß, versperrte der Bettlerjunge dem Doktor den Weg zum
Wagen. Er pflanzte sich mit gestreckten Armen, Handflächen nach oben, vor ihm auf;
in seinen Mundwinkeln klebte irgendein weißliches Zeug, und auf seinen Augen lag
ein schleimiger Schleier.
    Der Blick des Orthopäden
wanderte unweigerlich zu dem hinkenden Bein. Der rechte Fuß des Jungen war starr
im rechten Winkel fixiert, so als wären Fuß und Knöchel fest miteinander verwachsen
– eine Ankylose genannte Deformation, mit der Dr. Daruwalla von dem häufig vorkommenden
angeborenen Klumpfuß her vertraut war. Doch sowohl der Fuß als auch der Knöchel
waren ungewöhnlich flachgedrückt – vermutlich bei einem Unfall zerquetscht –, so
daß das ganze Körpergewicht auf der Ferse lastete. Außerdem war der deformierte
Fuß erheblich kleiner als der gesunde; daraus schloß der Doktor, daß bei dem Unfall
wahrscheinlich die Epiphysenfuge verletzt worden war, jener Bereich, in dem das
Knochenwachstum stattfindet. Der Fuß war nicht nur fest mit dem Knöchel verschmolzen,
sondern hatte auch zu wachsen aufgehört. Farrokh war überzeugt, daß er inoperabel
war.
    [240]  In dem Augenblick
öffnete Vinod die Fahrertür. Der Bettlerjunge hatte ein wachsames Auge auf den Zwerg,
der jedoch keinen Squashschlägergriff schwang. Trotzdem war Vinod entschlossen,
Dr. Daruwalla die hintere Autotür zu öffnen. Da der Junge größer, aber zierlicher
war als Vinod, schob Vinod ihn einfach beiseite. Farrokh sah, wie der Bettlerjunge
stolperte; sein zerquetschter Fuß war so unbeweglich wie ein Hammer. Sobald der
Doktor im Ambassador saß, kurbelte er das Fenster gerade so weit herunter, daß der
Junge ihn hören konnte.
    »Maaf
karo«, sagte
Dr. Daruwalla freundlich. Das sagte er immer zu Bettlern. »Verzeih mir.«
    Der Junge sprach
englisch. »Ich verzeihe Ihnen nicht«, sagte er.
    Ebenfalls auf englisch
sprach Farrokh aus, was ihn beschäftigte: »Was ist denn mit deinem Fuß passiert?«
    »Da ist ein Elefant
draufgetreten«, antwortete der Junge.
    Das wäre eine Erklärung,
dachte der Doktor, aber er glaubte die Geschichte nicht. Bettler waren Lügner.
    »War es ein Zirkuselefant?«
wollte Vinod wissen.
    »Es war einfach
ein Elefant, der aus einem Zug gestiegen ist«, sagte der Junge zu dem Zwerg. »Ich
war ein Baby, und mein Vater hat mich auf dem Bahnsteig liegengelassen und ist in
einen bidi -Laden gegangen.«
    »Dir ist also

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