Zirkuskind
werden konnte… also das
wurmte Dr. Daruwalla schon sehr. Diese Kränkung schürte seine Unsicherheit und seine
Vorurteile bezüglich der überlegenen Bildung der Jesuiten. Sie waren nicht nur heiliger
als man selbst, sie [246] wußten mehr! Aber die telefonische Nachricht hatte nichts
mit der Bekehrung des Doktors zu tun, sondern mit Dhars Zwillingsbruder.
Natürlich! Dhars
Zwillingsbruder war der erste amerikanische Missionar in der ehrwürdigen 125jährigen
Geschichte von St. Ignatius; weder die Kirche noch die Schule war bisher in den
Genuß eines amerikanischen Missionars gekommen. Dhars Zwillingsbruder war das, was
die Jesuiten einen Scholastiker nannten, und Dr. Daruwalla wußte zumindest, daß
das bedeutete, daß er sich ausgiebigen religiösen und philosophischen Studien unterzogen
und die einfachen Gelübde abgelegt hatte. Doch er wußte auch, daß Dhars Zwillingsbruder
bis zur Priesterweihe noch ein paar Jahre vor sich hatte. Er befand sich vermutlich
in einer Phase der Gewissenserforschung, in einemStadium, in dem er sich endgültig
darüber klarwerden mußte,ob er diese einfachen Gelübde ablegen wollte.
Schon bei dem Gedanken
an die Gelübde bekam Farrokh eine Gänsehaut. Armut, Keuschheit und Gehorsam – so
»einfach« war das keineswegs. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, daß sich der
Sproß eines Hollywood-Drehbuchautors wie Danny Mills für Armut entschied; noch schwerer
konnte er sich vorstellen, daß ein Kind von Veronica Rose Keuschheit gelobte. Und
mit den kniffligen, jesuitischen Weiterungen des Begriffs ›Gehorsam‹ kannte sich
Dr. Daruwalla ohnehin nicht annähernd gut genug aus. Zudem argwöhnte er, daß, falls
einer dieser durchtriebenen Jesuiten versuchen sollte, ihm zu erklären, was ›Gehorsam‹
denn nun bedeutete, die Erklärung an sich schon ein Wunderwerk an Zweideutigkeit
und spitzfindiger Argumentation sein würde und er am Ende nicht klüger sein würde
als zuvor. Nach Farrokhs Einschätzung besaßen die Jesuiten intellektuelle Schläue
und Finesse. Und das konnte sich der Doktor am allerschwersten vorstellen: daß ein
Kind von Danny Mills und Veronica Rose über intellektuelle [247] Schläue und Finesse
verfügen sollte. Nicht einmal Dhar, der eine solide europäische Erziehung genossen
hatte, war ein Intellektueller.
Aber dann rief sich
Dr. Daruwalla ins Gedächtnis, daß Dhar und sein Zwillingsbruder genetisch betrachtet
auch das Werk von Neville Eden sein konnten. Neville hatte auf Farrokh immer einen
schlauen und verschlagenen Eindruck gemacht. Was für ein Puzzle! Was genau bezweckte
ein Mann mit knapp Vierzig damit, daß er Priester wurde – oder zu werden versuchte?
Welche Fehlschläge mochten ihn so weit gebracht haben? Farrokh ging davon aus, daß
nur grobe Schnitzer oder Enttäuschungen einen Mann dazu bringen konnten, derart
massiv repressive Gelübde abzulegen.
Und nun behauptete
Pater Cecil, der »junge Martin« habe in einem Brief erwähnt, daß Dr. Daruwalla »ein
alter Freund der Familie« sei. Demnach hieß er also Martin – Martin Mills. Farrokh
fiel ein, daß Vera ihm das in ihrem Brief bereits mitgeteilt hatte. Aber so jung
war der »junge Martin« nun auch wieder nicht – außer für Pater Cecil, der zweiundsiebzig
war. Aber der eigentliche Grund für Pater Cecils Anruf überraschte Dr. Daruwalla
denn doch.
»Wissen Sie genau,
wann er ankommt?« fragte Pater Cecil.
Was soll das heißen,
ob ich es weiß? dachte Farrokh. Warum weiß er es denn nicht? Doch weder Pater Julian
noch Pater Cecil konnten sich genau erinnern, wann Martin Mills ankommen würde.
Sie beschuldigten Frater Gabriel, den Brief des Amerikaners verschlampt zu haben.
Frater Gabriel war
nach dem spanischen Bürgerkrieg nach Bombay und nach St. Ignatius gekommen. Er war
auf seiten der Kommunisten gewesen, und seine erste Tat in der Missionsstation hatte
darin bestanden, daß er den Grundstein zu der Sammlung russischer und byzantinischer
Ikonen legte, für die die Kapelle und das kleine Museum von St. Ignatius inzwischen [248] berühmt waren. Außerdem war Frater Gabriel zuständig für die Post.
Als Farrokh zehn
oder zwölf Jahre alt war und in St. Ignatius zur Schule ging, mußte Frater Gabriel
sechs- bis achtundzwanzig gewesen sein. Er erinnerte sich daran, daß sich der Jesuit
damals noch immer damit abquälte, Hindi und Marathi zu lernen, und daß er ein melodiöses
Englisch mit einem spanischen Akzent sprach. Er erinnerte sich an einen kleinen,
stämmigen
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