Zirkuskind
Christen gläubig waren, ohne durch Wunder angespornt zu werden,
und dieser Gedanke kam seiner Suche nach einem Gebet sofort in die Quere. In letzter
Zeit hatte er sich gelegentlich gefragt, ob er auch als Christ ein Hochstapler war.
[236] In Toronto war
Farrokh ein nichtassimilierter Kanadier und ein Inder, der anderen Indern aus dem
Weg ging. In Bombay sah er sich ständig damit konfrontiert, wie wenig er über Indien
wußte und wie wenig er sich als Inder fühlte. In Wirklichkeit war Dr. Daruwalla
Orthopäde und Duckworthianer und somit – in beiden Fällen – lediglich Mitglied zweier
exklusiver Clubs. Sogar sein Übertritt zum Christentum kam ihm unaufrichtig vor,
da er nur an hohen Feiertagen wie Weihnachten und Ostern in die Kirche ging – er
konnte sich nicht entsinnen, wann ihn zum letztenmal innige Freude beim Beten erfüllt
hatte.
Obwohl es ein ziemlicher
Brocken war – und zudem eine knappe Zusammenfassung all dessen, was er eigentlich
hätte glauben sollen –, begann Dr. Daruwalla seinen Betversuch mit dem sogenannten
Apostolischen Glaubensbekenntnis. »Ich glaube an Gott den Allmächtigen, Schöpfer
des Himmels und der Erde…«, rezitierte Farrokh atemlos, hörte aber bald wieder auf.
Als er später den
Aufzug betrat, sann er darüber nach, wie schnell er die Lust am Beten verloren hatte.
Er beschloß, Dr. Aziz bei nächster Gelegenheit zu seinem äußerst disziplinierten
Glauben zu beglückwünschen. Doch als Dr. Aziz im fünften Stock zustieg, war Farrokh
völlig durcheinander. Mit Müh und Not brachte er ein »Guten Morgen, Doktor – wie
geht’s?« heraus.
»Danke, gut – und
Ihnen, Doktor?« sagte Dr. Aziz, fast etwas verschmitzt und verschwörerisch. Als
sich die Lifttür schloß und die beiden allein waren, fragte Dr. Aziz: »Haben Sie
schon das von Dr. Dev gehört?«
Farrokh überlegte,
welchen Dr. Dev er wohl meinte? Es gab einen Dr. Dev, der Kardiologe war, dann einen
Anästhesisten – es gab einen Haufen Devs. Sogar Dr. Aziz war in Medizinerkreisen
als Urologen-Aziz bekannt, die einzig vernünftige Möglichkeit, ihn von einem halben
Dutzend anderer Dr. Aziz zu unterscheiden.
[237] »Dr. Dev?« fragte
Dr. Daruwalla vorsichtig.
»Der Gastroenterologe«,
erläuterte Urologen-Aziz.
»Ach so, der Dr. Dev«, sagte Farrokh.
»Haben Sie es schon
gehört?« fragte Dr. Aziz. »Er hat Aids – er hat sich bei einer Patientin angesteckt.
Und nicht etwa durch Geschlechtsverkehr.«
»Doch nicht beim
Untersuchen der Patientin?« fragte Dr. Daruwalla.
»Bei einer Koloskopie,
glaube ich«, sagte Dr. Aziz. »Die Frau war eine Prostituierte.«
»Bei einer Koloskopie…
aber wie denn?« fragte Dr. Daruwalla.
»Vermutlich sind
mindestens vierzig Prozent der Prostituierten mit dem Virus infiziert«, sagte Dr.
Aziz. »Bei zwanzig Prozent meiner Patienten, die mit Prostituierten verkehren, ist
der HIV -Test positiv!«
»Aber bei einer
Koloskopie? Ich verstehe nicht, wie das gehen soll«, sagte Farrokh, aber Dr. Aziz
war zu aufgeregt, um darauf einzugehen.
»Ich habe Patienten,
die mir – einem Urologen – erzählen, daß sie ihren eigenen Urin getrunken und sich
damit von Aids geheilt haben!« sagte Dr. Aziz.
»Ach ja, die Urintherapie«,
sagte Dr. Daruwalla. »Sehr populär, aber…«
»Aber genau da liegt
das Problem!« rief Dr. Aziz. Er zog ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche,
auf das ein paar Wörter gekritzelt waren. »Wissen Sie, was das Kamasutra sagt?« fragte Dr. Aziz Farrokh.
Da fragte nun ein Muslim einen (zum Christentum übergetretenen) Parsen nach einer
hinduistischen Aphorismensammlung über sexuellen Leistungssport – einige Leute würden
es ›Liebe‹ nennen. Dr. Daruwalla hielt es für klug, vorsichtig zu sein; also sagte
er nichts.
Auch was die Urintherapie
betraf, war es klug, nicht dazu [238] Stellung zu nehmen. Moraji Desai, der ehemalige
Premierminister, war ein Anhänger der Urintherapie – und gab es nicht auch eine
sogenannte Lebenswasser-Stiftung? Am besten sagte er auch dazu nichts, befand Farrokh.
Außerdem wollte ihm Urologen-Aziz etwas aus dem Kamasutra vorlesen. Das beste wäre wohl zuzuhören.
»Von den zahlreichen
Umständen, unter denen Ehebruch erlaubt ist«, sagte Dr. Aziz, »möchte ich Ihnen
folgende nicht vorenthalten: ›Wenn solch heimliche Beziehungen ungefährlich sind
und eine sichere Methode darstellen, um Geld zu verdienen.‹« Dr. Aziz faltete das
schon häufig beanspruchte Blatt Papier wieder
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